ZeM Mitteilungsheft Nr. 11 - Juni 1993
Redaktion: Corinna Uhl
Gerda Schneider
Die unerträgliche Anstrengung der Elektronischen
Musik
Diese Urteile sind für uns nicht neu: Elektronische Musik ist anstrengend,
vielleicht zu anstrengend, man muß alte Hörgewohnheiten ablegen
und neu hören lernen, sie verunsichert usw. (1). Diese Bewertung der
Elektronischen Musik ist oft auch die Begründung für deren Ablehnung,
und es stellt sich dann die Frage, ob es sich hierbei um einen vielleicht
veränderbaren Zustand handelt, oder anders formuliert, wie die Chancen
der Elektronischen Musik in unserer Gesellschaft stehen. Die Meinungen
darüber sind kontrovers, wie den verschiedenen Artikeln in den ZeM-Mitteilungsblättern
zu entnehmen ist.
Geht man davon aus, daß die Akzeptanz von Kunst nicht nur ein
Prozeß ist, der sich zwischen dem einzelnen und dem Objekt vollzieht,
weil der einzelne immer eingebunden ist in soziale Gruppen, ist die Frage
nach den Chancen der Elektronischen Musik zugleich die Frage nach unserer
heutigen Gesellschaft.
Unter diesem Aspekt hat Axel Mehlem in einem Artikel
im ZeM-Mitteilungsblatt (2) die These vertreten, daß es eine Elektronische
Musik mit Breitenwirkung nicht geben kann, denn, so die Begründung,
die Elektronische Musik ist ihrem Wesen nach experimentell, hat damit einen
idealistischen Ansatz, der mit den kommerziellen Marktstrategien nicht
Einklang gebracht werden kann, während die am Kommerz ausgerichtete
Musik sich nach dem Status quo richtet. In der Elektronischen Musik sieht
Axel Mehlem eine "ungenormt fordernde Musik", die den Zuhörer herausfordert,
sich mit sich und der Wirklichkeit auseinanderzusetzen.
Das heißt aber doch nun nicht anderes, als daß die Elektronische
Musik ihren Zuhörern eine Anstrengung zumutet, die ein Großteil
von ihnen nicht auf sich nehmen will. Verweigerung und Ablehnung sind die
Reaktionen.
Liegt das nun allein an dem besonderen Charakter der Elektronischen
Musik, so wie er von Axel Mehlem in diesem Artikel beschrieben wird? Oder
ist die Gesellschaft, in der wir leben, überhaupt überfordert,
was zeitgenössische Musik und Kunst betrifft?
In einem Bericht von einer Diskussion über Neue Musik (3) wird
von dem "oft gehörten Vorwurf der Unverständlichkeit" gesprochen,
der als Grund für die Ablehnung der Neuen Musik gesehen wird. Dieser
Vorwurf wird dann aber gleich auf seine Richtigkeit hin geprüft. Dabei
ergibt sich, daß zwar die Neue Musik, in der der Komponist seine
eigene Sprache erst entwickelt, sicher nicht beim ersten Hören verständlich
sei, andererseits aber auch ein Beethoven beim ersten Hören nicht
richtig verstanden werden könne. Der Unterschied scheine vielmehr
darin zu liegen, daß Beethovens System bekannt und seine Sprache
akzeptiert ist. Und dieser Unterschied führe dazu, daß beim
Hören Neuer Musik der Hörer aktiver sein müsse. Aus diesen
Überlegungen wird dann gefolgert, daß die Neue Musik durch die
Häufigkeit und Art ihrer Darbietung (Einleitungen, mehrmaliges Spielen
etc.) bekannter gemacht werden müsse, um beim Publikum entsprechend
akzeptiert zu werden, "denn das Publikum ist weniger phlegmatisch, als
man meinen sollte."
Von diesen Aussagen sind folgende sicher richtig und lassen sich ohne
weiteres auf das Gebiet der Elektronischen Musik übertragen: Die Sprache
ist neu und damit unverständlich, vom Hörer wird aktives Zuhören
verlangt, das Verstehenlernen der neuen Sprache - oder besser: das Hörenlernen
der neuen Sounds und Strukturen - ist oft sehr anstrengend, die Orientierung
wegen der Unbekanntheit sehr schwierig. Richtig ist sicher auch, daß
ein größeres Angebot vom Publikum nicht nur abgelehnt würde,
und daß mehr Orientierungshilfen die Akzeptanz erhöhen könnten.
Doch kann man wirklich davon ausgehen, daß eines Tages, in vielleicht
nicht zu ferner Zeit, Elektronische Musik nicht nur als eine Sache von
Spezialisten angesehen wird, sondern als eine eigentlich natürliche
Art, musikalische Ereignisse zu produzieren, so wie im Ensemble Moderne
"die Konzentration auf Neue Musik schließlich erscheint nicht als
Einengung oder Spezialisierung, sondern als die eigentlich natürliche
Art des Musizierens"(3)?
Vor dem Hintergrund der Darstellung von Axel Mehlem erscheint diese
Vision als Utopie. Vielleicht machen wir es uns aber zu leicht, wenn wir
nicht an den Erfolg glauben. Oder sehen wir das bisher Erreichte in falscher
Perspektive? Oder geben wir uns einfach zu wenig Mühe, einem breiteren
Publikum die Elektronische Musik verständlich zu machen?
Doch, wenn wir nun versuchten, die Elektronische Musik einer breiteren
Menge verständlich zu machen und nicht nur zu Gehör zu bringen,
wird sie denn dann auch in der Tat besser verstanden? Nimmt dadurch ebenfalls
die Bereitschaft zu, die Anstrengung der Elektronischen Musik auf sich
zu nehmen? Oder müßten wir doch von dem "ungenormt fordernden
Charakter", der Radikalität, einiges, vielleicht sogar ziemlich viel
zurücknehmen, um die Anstrengung erträglich zu machen? Und wenn
daraufhin die Elektronische Musik von größeren Mengen gehört
würde, könnten wir uns dann darüber freuen und dies als
Erfolg feiern - nicht als persönlichen Erfolg natürlich, sondern
als Erfolg der Elektronischen Musik?
Die Vorstellung allein, daß irgendwann einmal Elektronische Musik
so wie heute die Klassik im institutionalisierten Musikbetrieb unters Volk
gebracht wird, läßt allerdings keine reine Freude aufkommen.
Doch der Erfolg der Elektronischen Musik ist nicht nur deshalb sehr
begrenzt, weil echte Elektronische Musik sich nicht am Kommerz ausrichten
kann oder weil sie noch zu unbekannt ist. In derselben Zeitung findet sich
nämlich noch eine Würdigung des Komponisten György Ligeti
anläßlich seines 70. Geburtstages (4), der keinen Optimismus
aufkommen läßt. Gerade das Maß der Beachtung und Wertschätzung
dieses Komponisten läßt erkennen, daß die neuen von ihm
erschlossenen musikalischen Erfahrungswelten im Unterschied zu den 60er
Jahren heute nicht gefragt sind. Dieser Umschwung wird einem Wandel im
gesellschaftlichen wie künstlerischen Bereich von den 60er zu den
70er Jahren zugeschrieben, der in diesem Artikel mit den Worten des Philosophen
P. Sloterdijk als "Wechsel von der kopernikanischen Mobilmachung zu ptolemäischer
Abrüstung" bezeichnet wird.
Wir können festhalten: Die "kopernikanische Wende" hatte also
einmal stattgefunden, hatte zu einer geistigen Mobilität geführt,
die dem Wissensstand der Zeit entsprach, aber man hat sich für den
weiteren Aufbruch in den 70er Jahren nicht mehr gerüstet, man hat
ihn nicht nur nicht fortgesetzt, im Gegenteil, man ist daran gegangen und
ist noch dabei, ihn wieder rückgängig zu machen, ist nicht mehr
bereit, die dazu nötige Anstrengung auf sich zu nehmen. Daß
die "ptolemäische Abrüstung" einer Aufrüstung gegen die
Elektronische Musik gleichkommt, braucht nicht erst bewiesen zu werden
(vielleicht muß ich an dieser Stelle doch noch darauf hinweisen,
da viele Begriffe ja durch ihre politische Verwendung in ihrem ursprünglichen
Sinn oft nicht mehr verstanden werden: "Mobilmachung" und "Abrüstung"
sind hier nicht als miltärisch-politische Begriffe zu verstehen).
Dieser Weg zurück ist nun noch verbunden mit einem Wandel der
Gesellschaft zu einer "Erlebnisgesellschaft"(5), die nicht nur im Warenbereich,
sondern auch im Kulturbereich konsumiert, um zu erleben und damit aus dem
Leben ein schönes Leben zu machen, d.h. ein Leben aus schönen
gleich angenehmen Erlebnissen und Empfindungen. Auf dem Erlebnismarkt,
der dem Konsumenten das Angebot der verschiedenen Erlebnismöglichkeiten
offeriert, konkurriert das Theater mit der Sportschau, die Oper mit der
Disco, der Freizeitpark mit dem Museum - entschieden wird danach, was mehr
Erleben, mehr Genuß verspricht. Erkenntnis, vor allem wenn sie mit
Anstrengung verbunden ist, ist nicht gefragt. Und wenn die Entscheidung
für ein Kulturangebot mit anstrengendem Inhalt gefällt wird,
ist das Erlebnis auch hier sozusagen integriert und zeigt sich in Fragen
wie "wohin gehen wir hinterher"?
Dieser kulturelle Wandel führt dazu, daß die Aufnahmebereitschaft
für die "ungenormt fordernde Musik" immer mehr abnimmt bzw. nicht
entwickelt wird. Die mangelnde Bereitschaft, anstrengende Elektronische
Musik zu hören, ist offensichtlich ein Phänomen, das symptomatisch
ist für unsere Gesellschaft: "light" ist in, und Elektronische Musik
ist nun mal nicht "light", sie ist, für viele, unerträglich anstrengend.
Will man als Produzent von Elektronischer Musik nicht auf dem Erlebnismarkt
mit anderen Erlebnisanbietern konkurrieren entsprechend den Gesetzen dieses
Marktes, wird der Erfolg, so er überhaupt meßbar ist, unter
den gegebenen Bedingungen bescheiden sein. Das ist nun kein Grund zum Pessimismus,
genauso wenig aber zum Optimismus. Realismus ist notwendig, ein Realismus,
der uns auch vor Selbstkonstruktionen von Erfolg bewahrt.
(1) vgl. dazu: ZeM-Mitteilungsblätter seit 1989
(2) A. Mehlem: Elektronische Musik
hat keine Breitenwirkung, in: ZeM Mitteilungsblatt Nr.3/1990
(3) D. Gottwald: Diskussion über Neue Musik, in: Neue Musikzeitung
Nr.2/ 1993 , S.21
(4) D. Gottwald: a.a.O.
(5) R. Schulz: Schwierigkeit, anständig zu komponieren, in: Neue
Musikzeitung Nr.2/1993, S.16
(6) G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, Kultursoziologie der Gegenwart,
Campus Verlag Frankfurt/New York 1992
↑
Franz Martin Löhle
Das "verschärfte" Waveshaping
... wurde beim Freiburger Mitgliedertreffen im März von Corinna
Uhl dargerboten. Nach der Klärung, ob 'Shape' und scharf oder Form
bedeutet (das letztere war es), wurde den reichlich Anwesenden zu Gehör
gebracht, wie auf bestimmte Wellenformen (i.d.R. Samples) das Shaping wirken
kann. Die Samples der Korg 01R/W wurden dadurch fast neu "synthetisiert".
Der 01../W ist deshalb der einzige Synthesizer, der von Korg die letzten
Jahre herausgebracht wurde, der tatsächlich den Klang noch synthetisiert.
Weiter ist Klangerzeugung bei ihm durch die Beschränkung auf 2 Oscillatoren
und den üblichen Parametern (Osc -> Filter -> Amplifier und deren
Controller) wieder durchschaubar und führt schnell von den einfachen
Samples zu neuen Klangwelten. Einhellig wurde begrüßt, daß
es auf dieser Weise möglich ist, bestimmte Instrumente, auch von einer
anderen Seite kennenzulernen.
Dies bestätigte auch das Mitgliedertreffen (Freiburg) im April,
bei dem Hubert Arnolds den K4r aus dem Hause Kawai vorstellte. Auch hier
konnten die anwesenden Mitglieder erfahren, daß ein solch "einfacher"
Synthesizer wie der K4r seine synthetischen Reize bietet. Hier bereichert
speziell eine ausgeklügelte Ringmodulation die üblichen ROM-Sample-Klänge.
Hieraus ergab sich wieder, daß es auch möglich ist, mit einfachen
und sehr preiswerten Synthesizern Elektronische Musik, die weiter als nur
Standard-Presets geht, zu kreieren.
Nach zweimal Hardware sollte im Mai wieder Software zum Zuge kommen.
Neben Delight ist nun auch der Notator Logic für Atari ST erschienen.
Leider war es Emagic nicht möglich, den Logic rechtzeitig für
das Mai-Mitgliedertreffen zur Verfügung zu stellen. Wer sich trotzdem
für eine Einführung und Umsteiger-Hilfen für Notator Logic
interessiert, sei auf das ZeM College Kursangebot verwiesen (gelbe Zettel
...). Spontan wurde deshalb das Delight begutachtet und die wichtigsten
Dinge des Kurzweil K2000 und Peavy DPM 3+ durchforscht, was durch die geringe
Anwesendenzahl sehr gut möglich war.
↑
Corinna Uhl
Bericht aus Bremen
Sicherlich werden sich nun einige Freiburger und Bremer ZeM-Mitglieder
wundern, daß ein Freiburger ZeM-Mitglied einen Bericht aus Bremen
schreibt. Der Anlaß ist nicht sehr erfreulich: Der 1. Vorsitzende
von ZeM Bremen Erwin Koch-Raphael tritt von seinem Amt zurück. Grund
für diesen Entschluß war hauptsächlich seine sehr spärlich
bemessene Zeit; ein großes Projekt ist geplant, das seinen vollen
Einsatz fordert, so daß er seine Funktionen als erster Vorsitzender
des Bremer Vereins nur noch eingeschränkt wahrnehmen könnte.
Außerdem erhofft er sich durch diese Umstrukturierung des Vorstandes
neue Innovationen für den Verein selbst. Es ist zwar einerseits gut
für einen Verein, einen konstanten Vorstand und Ansprechpartner zu
haben - seit Gründung von ZeM Bremen 1990 war er 1. Vorsitzender -
andererseits bringt ein Personenwechsel auch Veränderungen mit sich,
die dazu führen, daß die Vereinsstrukturen neu überdacht
werden müssen. Dennoch, Erwin Koch-Raphael bleibt weiterhin Mitglied
bei ZeM Bremen und wird auch, sobald es seine Zeit erlaubt, Artikel im
ZeM MT veröffentlichen.
Wie auch immer sich die Entwicklung in Bremen fortsetzen wird, ZeM
Freiburg bedauert diesen Schritt und möchte sich an dieser Stelle
für die Zusammenarbeit herzlich bedanken.
Im folgenden der Wortlaut des Rücktrittsgesuch Erwin Koch-Raphael
an den Schriftführer ZeM Bremens Ingo Beck vom 25.5.1993:
Lieber Ingo,
hiermit erkläre ich offiziell, daß ich mit Wirkung vom heutigen
Tage mein Amt als 1. Vorsitzender des Vereins ZeM Bremen e.V. niederlege.
Ich bleibe jedoch weiterhin Mitglied des Vereins.
Ich bitte die Mitglieder des restlichen Vorstands, sich gem. den Regeln
der Satzung um einen neuen Vorsitzenden unter Berücksichtigung aller
nötigen Formalien zu kümmern.
Georg Sichma ist bereit, fürs erste meine Vertretung zu übernehmen,
bis eine Neuwahl stattgefunden hat.
Ich danke für das bisher mir entgegengebrachte Vertrauen.
Mit freundlichen Grüßen
(Erwin Koch-Raphael)
↑
Gerhard Wolfstieg
Neue VerMittler
IV " "Neue Medien" "
Die "Neuen Medien" sind:
1. Der Computer
2. Medium X unter Einsatz des Computers
3. - ? -
Die "Neuen Medien" sind:
a) |
die von der privaten Wirtschaft in den 70/80-er Jahren entdeckten Medien |
b) |
die technischen Medien, - aber was ist Technik? Technik ist die Kunst/...
, hier kommt etwas ganz und gar durcheinander.
|
c) |
nicht existent. |
Die "Neuen Medien" sind:
Videos
oder
Videoclips
oder
Videorecorder
Wie unterscheidet sich die Bedeutung der Begriffe
"Neue Medien"
und
neue Medien
?
Neu! - Wie neu?
Das Attribut 'neu' eignet sich nicht für den analytischen Diskurs.
In Aussagen der Ästhetik, im spezifischen Urteilen mag 'neu' seinen
Platz haben und Neuartiges seinen Reiz ausüben.
Der Begriff 'Medien' zielt auf Allgemeines,
'neue Medien' ist also ein Begriff, dem die Anwendbarkeit fehlt.
"Neue Medien" als Phänomen - , übergeben wir es der politischen,
ökonomischen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung.
I Um den Begriff des Mediums ZeM Nr. 9 - 4/1992
II Werkzeug oder Medium ZeM Nr. 9 - 4/1992
III Was ist ein Computer
/ nicht ? ZeM Nr. 10 - März 1993
IV "Neue Medien" ZeM Nr. 11 - Juni 1993
↑
Dr. Joachim Stange-Elbe
Elektronische Musikinstrumente.
Ein historischer Rückblick mit zeitgenössischen
Dokumenten.
4. Teil: Musik aus der Luft.
Der Theremin-Apparat und die Ondes Martenod
Während der zwanziger Jahre wurden vermehrt elektrische Instrumente
geschaffen, die explizit der Elektroenröhre von de Forest als Klangerzeuger
sich bedienten. Als herausragendes Beispiel sei hier auf das "Aetherophon"
des russischen (heute fast einhundertjährigen) Physikers Leo Theremin
verwiesen. Das 1920/21 fertiggestellte und nachfolgend ständig verbesserte
Instrument ist nichts mehr als ein Radioapparat zur Musikerzeugung, konstruiert
zu einer Zeit, wo man bei in Deutschland noch nicht einmal an den regelmäßigen
Rundfunk dachte. In Berlin wurde dieses Instrument erstmals 1927 vorgestellt.
Der Artikel mit der bezeichnenden Überschrift "Die Sinfonie der Rundfunkröhre"
(Hans Böhm, Die Sinfonie der Rundfunkröhre, in: FUNK, Jahr 1927,
Heft 41, S. 339ff.) wird Theremins "Ätherklavier" in engem Zusammenhang
mit der Radiotechnik betrachtet. (Der Begriff "Ätherklavier" zeigt
die Schwierigkeit in der Begriffsfindung: Während "Äther" noch
über das Spielprinzip mittels Antennenbeeinflussung erklärbar
ist, ergibt die Bezeichnung "Klavier" keinen Sinn, denn das Instrument
hatte ja keine Klaviatur.) Der Theremin-Apparat sieht wie ein Radioapparat
aus, zusätzlich zu der herausragenden Stabantenne ist ein kreisförmiger
Drahtbügel an der Seite befestigt. Die Bewegungen der menschlichen
Hand auf das Kraftfeld der um die Antenne liegenden elektromagnetischen
Wellen üben eine steuernde Wirkung auf die Ströme im Apparat
und ihre Frequenz aus: "Wird der Apparat in Funktion gesetzt, so entstehen
in der Nähe des Stabes elektromagnetische Wellen von sehr geringer
Energie, jedoch von einer ganz bestimmten Länge und Frequenz. Die
Annäherung einer Hand, die ja Elektrizitätsleiter ist, verändert
die Verhältnisse des elektromagnetischen Feldes rings um die Antenne,
verändert ihre Kapazität und wirkt solcherweise auf die Frequenz
des Wechselstromes, den der Apparat entsendet. Auf diese Weise entsteht
im Raume, der die Antenne umgibt, eine Art unsichtbarer Griff, und ähnlich
wie beim Cello der Finger, der auf eine Saite drückt, durch Annäherung
an den Steg eine Erhöhung des Tones hervorruft, so wird auch hier
der Ton höher je nach Näherbringen der Finger an die Antenne"
(Leo Theremin, Ätherwellenmusik und neue Wege der Musik, in: FUNK,
Jahr 1927, Heft 44, S. 368.).
Annäherung und Entfernung der anderen Hand zur kreisförmigen
Antenne an der Seite regelt die Lautstärke. Theremin brachte durch
diese Art der Beeinflussung des "Radioapparates" das Rückkopplungsphänomen
in geordnete, musikalisch ausdrucksfähige Bahnen. Die Rückkopplung,
die heute bei einer Rundfunkübertragung kaum mehr auftritt, ist jedoch
bei der manuellen Aussteuerung einer Tonbandaufnahme wenn der Mikrphoneingangspegel
gegenüber dem Ausgangspegel zu hoch ausgesteuert wird als unangenehmer
Pfeifton zu vernehmen: "Diese Töne, die er absichtlich erzeugt, beherrscht
er völlig, und er gibt sie nicht bloß als Beigabe einer anderen
Musik, er schafft so eine selbständige Musik" (Kurt Joel, Die Musik
aus der Luft. Theremins Ätherklavier und Jörg Magers Sphärophon,
in: FUNK, Jahr 1928, Heft 14, S. 110.). Theremin setzte einen störenden
Mißstand bei der Musikübertragung in eine eigene Musik um, machte
aus einer reproduktiven Not eine produktive Tugend. Darüber hinaus
war das Instrument auch ohne weiteres als Rundfunkempfänger zu benutzen:
"Eine unbedeutende Umschaltung macht aus dem Ätherklavier einen gewöhnlichen
Rundfunkempfänger. Ja man kann sogar gleichzeitig empfangen und konzertieren,
also z.B. das Orchester des Rundfunks als Begleitung zu eigenem Solomusizieren
verwenden, was besonders zum Üben sehr empfehlenswert ist. Vorläufig
werden aber unsere Leser noch keine Gelegenheit dazu haben..." (Hans Böhm,
Die Sinfonie der Rundfunkröhre, a.a.O., S. 340.). Vorgestellt wurde
dieser Apparat auf der Funkausstellung 1932 in Berlin. "Das Vorsatzgerät
enthält einen kleinen Sender mit Netzanschlußteil, der durch
eine geeignete Verbindung mit dem gewöhnlichen Rundfunkempfänger
des Hauses zum Zusammenwirken gebracht wird. Aus dem Vorsatzgerät
ragt ein Metallstab heraus, der zur Erzeugung des Spieles der Töne
dient. Stellt man sich in die Nähe dieses Stabes und bewegt die Hand
in einem Abstand von etwa 50 cm bis zu 2 cm, so läßt sich die
ganze Tonskala, von den tiefen bis zu den hohen Tönen, mit Hilfe des
Radioapparates und des angeschlossenen Lautsprechers zu Gehör bringen.
Die erzeugten Töne sind weich und von außerordentlicher Klangschönheit.
Die kommende Funkausstellung zeigt aber auch Vorrichtungen, die hinter
den Empfänger und vor den Lautsprecher eingeschaltet werden können,
um auch die Klangfarbe dieser Äthermusik beliebig formen zu können.
Man wird auf diese Weise nicht nur die einfachen weichen Töne zu Gehör
bringen, sondern auch beispielsweise Töne der Klarinette, des Fagotts
und ähnliche Klangformen erzeugen können" (Gustav Leithäuser,
Elektrische Hausmusik und Rundfunk auf der Funkausstellung, in: FUNK-Bastler,
Jahr 1932, Heft 32, S. 509.).
Mit dem Theremin-Apparat wurde die "wahre Rundfunkmusik" realisiert,
die nur über den Lautsprecher als Klangerzeuger sich manifestierte.
Theremin wollte speziell für sein Instrument einen geeigneten Lautsprecher
bauen, damit die Tonwiedergabe exakt seinen Anforderungen entsprach. Über
diese Weiterentwicklung, genauso wie über die Verbreitung des Instrumentes
in Deutschland, gibt es keine weiteren Berichte. In Amerika erfreute das
Thereminsche Instrument sich jedoch großer Beliebtheit: "Heute [1930]
werden in Amerika die Thereminschen Apparate in Massen hergestellt. Als
Spielzeug für die Jugend. Es ist natürlich sehr hübsch,
mit leichten, eleganten Handbewegungen Melodien aus dem 'Äther' hervorzuzaubern;
aber da sich mit unseren akustischen Musikinstrumenten weit bessere Resultate
erzielen lassen, so handelt es sich im Grunde um nichts weiter als um eine
radiotechnische Spielerei" (Richard H. Stein, Elektrische Musik, in: Die
Musik, 1930, Heft 11, S. 861.).
Gravierende Nachteile lagen in der ausschließlich einstimmigen
und schwierigen Spielbarweise. Theremin löste das Problem mit einigem
Aufwand: "Zur Zusammenstellung eines Orchesters [braucht man] nicht etwa
ebensoviel Apparate und Lautsprecher und Battarien... als man Stimmen wünscht.
Nur die Antennen müssen für jeden Spieler besonders sein, alles
andere kann gemeinsam bleiben bis auf die Zuschaltung einer neuen Generatorröhre
für jede neue Stimme" (Hans Böhm, Die Sinfonie der Rundfunkröhre,
a.a.O., S. 340.). Von Theremin selbst stammt auch der Vorschlag, mehrere
- höchstens jedoch drei - Spielantennen an einem Apparat von der Hand
eines Spielers beeinflussen zu lassen, "indem die Antennen parallel zueinander
angeordnet werden und die spielende Hand innerhalb des so gegebenen Raumes
bald der einen Antenne genähert und von der anderen entfernt wird,
so daß man gleichzeitig drei Stimmen erzeugen kann. Allerdings dürfte
zur Hervorbringung einwandfreier Musik eine große Gewandtheit des
Spielers gehören" (Otto Schultze, Elektrische Musikerzeugung, a.a.O.,
S. 436.). Es war schon ein gewandter und geübter Spieler gefordert,
um mit der ganz besonderen Spielweise, die keinerlei festen Anhaltspunkt
für die Tonhöhe gab, sich zurechtzufinden. Von anderen elektrischen
Instrumenten unterscheidet es sich auch heute noch durch die direkte Tonerzeugung,
ohne irgendwelche dazwischengeschaltete Mechanismen wie z.B. eine Tastatur.
"So wie der Klavierspieler auf den Tasten hin- und herfährt, so fährt
Prof. Theremin in der Luft, im Raum, hin und her, ohne die Antenne zu berühren,
variiert die Tonhöhe und Tonstärke" (Ohne Verfasser, Theremins
Sphärenmusik, in: Die Umschau 31, 1927, S. 1013f.). Der Spieler zieht
die Musik gleichsam aus der Luft, der menschliche Körper dient als
Elektrizitätsleiter, als Beeinflusser einer Steuerspannung: "Die Veränderung
der Tonhöhe und -stärke kann durch die Bewegungen nicht allein
der Hände, sondern auch des ganzen Körpers hervorgerufen werden,
selbst wenn sich dieser in ziemlicher Entfernung vom Apparat befindet.
Diese Möglichkeit eröffnet einen weiten Ausblick für die
Probleme der Musik im Zusammenhang mit dem Tanz" (Leo Theremin, Ätherwellenmusik
und neue Wege der Musik, a.a.O., S. 368.).
Die Utopie einer direkten Umsetzen von Bewegung in Musik, heute unter
musikalischem Einsatz des Computers praktiziert, wurde in der damaligen
Zeit als durchaus realisierbar dargestellt: "Werden nicht eines Tages die
Tanzenden selber ihre Musik machen? Noch Utopie? - wie lange noch?" (Heinrich
Strobel, Musik aus dem Äther, in: Musikblätter des Anbruch IX
1927, Heft 10, S. 435.).
Mit gebührender Vorsicht sind dagegen einzelne Berichte über
die "verschiedenen" Klangfarben des Theremin-Apparates zu werten: "Seine
[des Tones] Klangfarbe ist mannigfacher Art, je nach Einstellung der Schaltung
und der Dimension des Antenne, die durch aufsteckbare Hülsen leicht
verändert werden kann" (Hans Böhm, Die Sinfonie der Rundfunkröhre,
a.a.O., S. 339f.). An anderer Stelle ist zu lesen: "Die Art des Tones kann
nun von Prof. Theremin dem einer Violine, eines Klaviers, einer Trompete,
einer Orgel, ebenfalls durch die Hand nachgebildet werden. Nähert
er z.B. die Hand langsam, so empfängt der Hörer den Eindruck
vom Ton eines Streichinstrumentes; nähert und entfernt er die Hand
ruckartig, so empfängt man den Eindruck von dem Hämmern eines
Klavieres in Form eines Staccatos. Durch Änderung der Klangfarbe vermag
man den geschlossenen Ton eines Streichinstrumentes umzumodeln in den eines
Blasinstrumentes. Kurz die Modulationsgabe des Spielers vermag ungezählte
Klangfarben aus diesem Instrument herauszuholen. Am günstigsten für
die Wiedergabe erwiesen sich bisher getragene Kompositionen" (Ohne Verfasser,
Theremins Sphärenmusik, a.a.O., S. 1014. Bei aller theoretischer Möglichkeit
zur Gestaltung eines Stakkato ist es durch die recht schwerfällige
Tongestaltung fast unmöglich, mit dem Ätherophon Virtuosenstücke
wiederzugeben.). Und Heinrich Strobel stellt nach Theremins Berliner Konzert
fest, daß "der Ton seiner 'Ätherwellenmusik'... in allen seinen
Erscheinungsformen immer an eine Geige von besonderer Sonorität des
Klanges" erinnert (Heinrich Strobel, Musik aus dem Äther, a.a.O.,
S. 435.). Und auch ein anderer Konzertbesucher sieht angesichts des postulierten
Klangfarbenreichtums sich enttäuscht: "Der Klangcharakter bleibt im
allgemeinen gleich - was an sich ein Mangel ist, denn eine der haupsächlichen
Aufgaben elektrischer Musikerzeugung wird eines Tages die freie Schaffung
jeder beliebigen Klangfarbe durch entsprechende Mischung der Obertöne
sein -, aber er ist, zumal in der Mittellage, schön durch seine Eigentümlichkeit,
die ihn zwischen Holzbläser und die menschliche Stimme stellt" (Frank
Warschauer, Elektrische Tonerzeugung, in: Musikblätter des Anbruch
XI 1929, Heft 5, S. 216.).
Der (nicht vorhandene) Farbenreichtum von Theremins Ätherophon
ist glücklicherweise heute noch klanglich erlebbar. Eine seiner größten
Virtuosinnen, die in Rußland geborene Amerikanerin Clara Rockmore
(sie wurde 1918 geboren und kam im selben Jahr (1927) wie Theremin als
Geigenwunderkind nach Amerika. Nach Angaben von Bob Moog brachte sie es
als einzige zu einem virtuosen Spiel auf Theremins Apparat), spielte 1975
eine Schallplatte mit dem Theremin Apparat ein. Beim Anhören der zwölf
aufgenommenen Stücke bleibt die Klangfarbe (eine Mischung aus Cello,
Holzbläser und weiblicher Stimme) stets gleich. Wenn das Instrument
einen Klangfarbenwechsel ermöglichen würde, hätte Clara
Rockmore sicher darauf zurückgegriffen. Zudem werden auf der Schallplatte
nur Bearbeitungen wiedergegeben - Stücke von Rachmaninoff ("Vocalise"),
SaintSaens ("Der Schwan"), Strawinsky ("Berceuse" aus dem Feuervogel) und
Tschaikowsky ("Valse sentimentale" und "Serenade Melancolique"). Zwar werden
schon aus der Frühzeit des Ätherophons eigens für das Instrument
geschriebene Stücke erwähnt, ein "Sinfonisches Mysterium" für
Orchester und Ätherophon des russischen Komponisten Andrej Filippowitsch
Paschtschenko von 1923, sowie "eine Originalkomposition von J. Lewin".
Über die Gestalt und Charakteristika dieser Stücke wird jedoch
nichts erwähnt. Die Tatsache, daß Clara Rockmore keine einzige
Originalkomposition für ihre Schallplatteneinspielung ausgewählt
hat, läßt darauf schließen, daß die oben genannten
Werke wohl die einzigen Originalkompositionen waren und das Instrument
aufgrund seiner nicht leichten Spielbarkeit die Komponisten eher abschreckte
als animierte. So existieren auch keine eigens für Clara Rockmore
geschriebenen Stücke.
Bis auf eine Ausnahme (Edgar Varèse's "Equatorial" von 1934)
ist es schwer ein Bild davon sich zu machen, wie in diesen Originalkompositionen
das Ätherophon musikalisch eingesetzt wurde. Doch auch über dieses
Werk liegen widersprüchliche Angaben vor: es wurde 1934 für zwei
Theremin-Geräte geschrieben, ein paar Jahre später wurde die
Instrumentation erweitert, Doch hiervon kann keine Rede sein; ursprünglich
gesetzt für Solobaß, 4 Trompeten und Posaunen, Klavier, Orgel,
zwei Theremin-Apparaten und Schlagzeug, wurden in der revidierten Fassung
von 1961 der Solobaß durch einen Chor aus Baßstimmen und die
Theremin-Apparate durch zwei Ondes Martenod ersetzt (Siehe hierzu: Edgar
Varèse, Rückblick auf die Zukunft, = Musik Konzepte Bd. 6,
hg. v. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1978, S. 105.).
Diese Revision resultierte offensichtlich aus der Schwierigkeit, zwei Spieler
zu finden, die den doch recht problematischen Part der Ätherophone
spielen konnten. Die klangverwandte Ondes Martenod wer hingegen verbreiteter
und auch bequemer zu spielen. Sie basieren im Prinzip auf der gleichen
Tonerzeugung wie das Magersche "Sphärophon" (siehe die nächste
Folge) und lassen auch technisch sich durchaus mit dem Ätherophon
vergleichen. Der Unterschied liegt lediglich in ihrem Spielprinzip: Die
Kapazitätsveränderung, die beim Ätherophon durch die Handbewegung
im elektromagnetischen Feld der Antenne bewirkt wurde, war bei Martenod
durch ein Metallband ersetzt, an den ein Zeiger gekoppelt war. Dieser Zeiger
lief über eine aufgezeichnete Klaviatur, sie diente als Anhaltspunkt
für die Einstellung der Töne. Gleichmäßige Intervalle
waren damit ebenso wie fließende Glissandi spielbar.
1. Teil: Die Prophezeiung eines
"Technikers" - ZeM
Nr. 4 (I/1991)
2. Teil: Das elektrisch manipulierte
Klavier - ZeM
Nr. 6 (1/1992)
3. Teil: Der elektrisch erzeugte
Klang - ZeM
Nr. 10 (März 1993)
4. Teil: Musik aus Luft - ZeM
Nr. 11 (Juni 1993)
5. Teil: Sphärenklänge
- ZeM Nr. 14
(April 1994)
6. Teil: Saitenspiele (1)
- ZeM Nr. 15
(September 1994)
6. Teil: Saitenspiele (2)
- ZeM Nr. 16
(Januar 1995)
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Rückseite
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