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Klaus Weinhold

Cage und wir

Vor einigen Wochen starb fast achtzigjährig John Cage, einer der großen Neuerer und Seher unseres Jahrhunderts. Auch wer sein Werk nicht genau kannte und nur sporadisch etwas von ihm weltanschaulich oder musikalisch hörte, merkte: Hier wird etwas anderes gesagt, etwas gesucht und gefunden, was irgendwie immer im Gegensatz steht zum Klassischen, damit Normierten, zum Bewährten und damit Erhaltenswürdigen. Wer klassische Kunst studiert hat, dazu gehört Musik, geht aus und zurück zum Kunstwerk, zum Opus, zum begrenzten Raum, zum Stück mit Anfang und Ende (auch der menschliche Raum ist ein Stück aus dem unendlichen Raum). Kurz: Die klassische Kunst fördert den unnatürlichen Zustand, der streng nach Plan, Ursache, Geschichte und mannigfaltigen Bezogenheiten strukturiert ist. Wir kennen solche bezogenen und beziehbaren Systeme und Werke: die politischen Systeme, die Familie, die Lehr- und Fahrpläne, das planmäßige Üben an Musikinstrumenten, die Uhr mit ihrer Einteilung der Zeit und das System der Einteilung des unendlichen Klanges in "Teile": unser Tonsystem, unsere Skalen, unsere Harmonien, Perioden usw.
Cage hat versucht, den Menschen wenigstens etwas zu befreien: das Kunstwerkdenken abzuschaffen und den Natzurzustand mit seinem ungeregelten Reichtum über alles Artifizielle, Absichtsvolle und Abgezirkelte zu stellen. Vielleicht hat er auch versucht, uns die begreiflichen Muster zugunsten einer natürlichen Wildnis zu nehmen und auf letztere überhaupt erst einmal hinzuweisen. Unsere Gärten und Musikinstrumente haben eines gemeinsam: Stets sind sie gepflegt, abgemäht und in Ordnung gebracht, stets auf Kosten jener natürlichen Wildnis, die zu genießen und zu akzeptieren einem kultivierten Menschen offenbar schwerfällt.
Im Denken an Cage fallen besondere Begriffe ein: an erster Stelle "Zufall". In der klassischen Komposition gibt es diesen nicht, alles ist "notwendig". Tatsächlich: Es wird in dieser Notwendigkeit die Not des Menschen gelindert. Und eine dieser Nöte der Menschen ist eben der Zufall. Dieser ist "etwas, wofür keine Ursache, kein Zusammenhang, keine Gesetzmäßigkeit erkennbar ist". Zur Verdeutlichung gegen den Zufall: "alle Details seines Spiels sind bis ins letzte durchdacht, alle Ornamente überlegt plaziert, agogische Momente genau kalkuliert, nichts erscheint zufällig". Dagegen ist beim Zufall alles zufällig. Dagegen steht auch ein anderer Fall: Das Gefällige, "angenehm im Anhören, im Benehmen, schön" und sicher: geplant, nicht zufällig, mit planvollem Zusammenhang.
Cage hat uns versucht freizumachen für den Zufall und die genießende Annahme desselben. Der Zufall baut noch etwas ab: die Hierarchie der Werte. Wie wichtig ist dem Menschen ein festes Wertesystem, er will wissen, was gut und böse ist, was kon- und dissonant ist. Cage weist darauf hin, daß alles gleichgültig ist, daß damit beispielsweise das Sinnlose Sinn gewinnt und das Sinnvolle sinnlos wird. 
Cage stellte herrschende Konventionen in Frage, er setzte Prozesse der Befreiung in Gang, er versuchte den Menschen zu einem augenblicksbezogenen, von programmierter Reglementierung fernen Verhalten anzuregen. 
Befreiung, Zufall, Augenblick, Relativität, Wechsel, sind das nicht Begriffe, die der neuen Elektronischen Musik entsprechen: Befreiung zum zufälligen Klang, Random, zur zufälligen Anordnung, zum zufälligen Ohrenspitzen am zufälligen Ort, Befreiung zur Zufälligkeit der Abfolge, des Endes und des Anfangs?
Die abendländische Musik brachte nicht nur ihre Element in eine strenge Hierarchie, sondern das Musikleben überhaupt, sie unterschied nicht nur zwischen primären und sekundären Toneigenschaften, zwischen Haupt- und Nebenstufen, sondern auch zwischen "Musici" und "Cantores", zwischen berühmten Komponisten und Dirigenten und anomymen Orchestermusikern. Cage meinte, daß die europäischen Musiker einen Fehler machen, wenn sie sich dieser Tradition verschreiben. Sie sollten vielmehr Abstand von ihrer Geschichte nehmen, aufhören die europäische Musikkultur der Meisterwerke als die einzige Musik zu betrachten.
Cage sagt: "Die Meisterwerke der abendländischen Musik zeugen von Monarchien und Diktaturen. Komponisten und Dirigenten: Könige und Premierminister".
Weiter: "Viele Komponisten machen keine musikalischen Strukturen mehr. Statt dessen setzten sie Prozesse in Gang. Eine Struktur ist wie ein Tisch, ein Prozeß dagegen ist das Wetter. Im Falle eines Tisches sind Anfang und Ende des Ganzen und jedes seiner Teile bekannt. Im Falle des Wetters nehmen wir eine Veränderung wahr, aber wir haben keine klare Kenntnis von seinem Anfang und Ende". So stellt sich im Gedenken an Cage die Frage: Sollen wir unsere musikalische Arbeit am Tisch oder am Wetter ausrichten?
Und Cage sagt uns konkret zur Elektronischen Musik: "Ich glaube, daß die Verwendung von Geräuschen, um Musik zu machen, so lange andauern und zunehmen wird, bis wir zu einer Musik gelangen, die mit Hilfe elektrischer Instrumente produziert wird, die alle beliebigen hörbaren Klänge bereitstellen". "Das besondere Merkmal der elektrischen Instrumente wird darin bestehen, eine vollständige Kontrolle der Obertonstrukturen der Töne zu gewährleisten und Töne jeglicher Frequenz, Amplitude und Dauer zur Verfügung zu stellen". 
Wir sollten wissen, was wir Cage, seinen Aussagen und der Geschichte schuldig sind.

 

 


 


 


 


 


 


 



 

Rückseite


© ZeM e.V. | ZeM Mitteilungsblatt Nr. 8 - 3/1992

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