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Klaus Weinhold

Von der Musik zum Sound

Im Prospekt für die Ars Electronica dieses Jahres werden u. a. folgende Veranstaltungen angekündigt:
"Cartesian Chaos": Cartesian Chaos zeigt die Unmöglichkeit auf, sich selbst und die umgebende Welt unverzerrt zu sehen, da man sich inmitten eines Systems befindet und so keinen Außenstandpunkt einnehmen kann. 
"Endo und Nano": Mehrmals im 20. Jahrhundert ist sowohl unser Realitäts- wie unser Selbstverständnis radikal in Frage gestellt worden. Relativitäts- und Quantentheorie haben den objektiven Charakter der Welt relativiert. Die elektronischen Medien haben eine Techno-Transformation der Welt bewirkt, die einem Verschwinden der vertrauten Wirklichkeit gleichkommt. 
Im Vorwort für den Medienkunstpreis 92 kann man auf die Musik bezogen dem Sinn nach folgendes lesen: Die zeitgenössische Kunst hat in den letzten 30 Jahren eine Entwicklung vollzogen, die ein bis dahin ungeahntes Spektrum neuer Möglichkeiten vor uns ausbreitet. Eine neue Gattung springt dabei ins Auge und ins Ohr: die Medienkunst. Es sind die elektronischen Klänge, die den traditionellen Musikbegriff erweitert, ja sogar grundlegend in Frage gestellt haben. Auffällige Merkmale dieser neuen Klänge sind vor allem ihre Bewegung, ihre Veränderlichkeit und Selbstbestimmung durch das Phänomen des Erlebens eines neuen Zeit- und Raumbegriffs. Mit der Aufhebung der statisch-kontemplativen Form geht eine ungewohnte Vielschichtigkeit der Sinnesreizung einher. Der Verzicht auf einen kompositorischen Fixpunkt ist ein weiteres kennzeichnendes Merkmal. "Polyzentrisch" im Sinne einer formalen Neuorientierung und "pluralistisch" sind wichtige konstituierende Elemente der neuen Kunst. Diese verlangt ein völlig neues Rezeptionsverhalten. Die überkommenen Maßstäbe zur Beurteilung zur Herstellungstechnik, Form, Inhalt und ästhetische Relevanz lassen sich kaum mehr anwenden. Unruhe, Irritation, Ablehnung, genauso wie Euphorie, Katharsis und Aufbruchstimmung wie vor einer Reise mit unbekanntem Ziel sind die Folge. 
Diese Zitate können Anlaß sein für uns und unser Anliegen, darüber nachzudenken. Wir befinden uns als Musiker in einem System, das zu beherrschen und zu kennen man sich bemüht, in Theorie und Praxis, wir erkennen jedoch nicht die Grenzen dieses Systems, wir wollen nur etwas sein, werden und schaffen innerhalb desselben. Die neuen Technologien erlauben uns, die Grenzen des Systems zu überschreiten und damit den geforderten Standpunkt außerhalb desselben einzunehmen. Wir können die klassische Musik nun von außerhalb sehen und nicht umgekehrt die neue technische Musik von der Klassik her. Wer die Elektronische Musik von hinten, vom traditionellen System her sieht, muß zwangsläufig zur Ablehnung derselben kommen, da das traditionelle System überall Grenzen aufrichtet.
Die Techno-Transformation der Musik kann eine Veränderung bewirken, das mögliche Verschwinden der vertrauten Elemente, der Muster, der Pattern. Wir erkennen dies als in sich geschlossenes historisches System an und für sich großartig, in sich schlüssig, nur zu vertraut und inzwischen zu naheliegend, zu eng an den Menschen mit seinen die Wirklichkeit reduzierenden Wahrnehmnungsprogrammen gekoppelt.
Die dritte Aussage trägt uns zu unseren möglichen Produkten und Vorhaben: "Aufhebung der statisch-kontemplativen Form": Das klassische Musikwerk wird sitzend rezeptiv gehört, die elektronische Soundproduktion entzieht sich dieser Hörweise, sie will bewegt, anregend, im "Vorüberhören" angegangen werden, will Unruhe erzeugen, nicht im Tempel ritualisiert "kontempliert" werden, sondern in quasi alltäglicher grauer Umgebung wahrgenommen werden. "Polyzentrisch": Der Sound ist nicht an Ausführende fixiert, er dezentralisiert sich, die Raumhierarchie wird ständig in Frage gestellt und durchbrochen. "Polyzentrisch" weist hin auf die endgültige Wegnahme des Begriffes der "Tonalität", der Eingrenzung auf periodische Schwingungsmuster in guten Zahlenverhältnissen. 
Die Elektronische Musik kann nicht überleben, nicht gewinnen, wenn sie sich als Fortsetzung der tradtitionellen Kunst sieht. Klaviere und Geigen sind allemal besser als Preset-Pianos oder "Strings", die temperierte Stimmung ist allemal besser als jede in kürzester Zeit erzeugte künstliche Stimmung. 
Es gilt, einen Neuanfang zu wagen, konsequent und umfassend, eine kopernikanische Wende wenigstens einzuleiten. Die Musik dreht sich nicht mehr um den Menschen, dieser hat sich um die naturgegebenen Möglichkeiten zu drehen.
Ob es auch nur annähernd gelingen wird, muß man bezweifeln, denn was der Mensch sucht, ist nicht die Natur des Sounds, sondern sich selbst, seinen Erfolg, seine Kommunikation und seine Umwelt.
Erstmals können die musikelektronischen Medien eine Transformation der traditionellen akustischen Welt zumindest anregen, können die vertrauten Wirklichkeiten des traditionellen Klanges verschwinden lassen, zugunsten dessen, was allem zugrunde liegt: der Substanzen, aus denen stets neue Synthesen klanglicher Art entstehen können.

 

 


 


 


 


 


 


 


 



 

Rückseite


© ZeM e.V. | ZeM Mitteilungsblatt Nr. 7 - 2/1992

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