ZeM Mitteilungsheft Nr. 23 - Frühjahr 2000
Redaktion: Rettbehr Meier
Editorial
Jetzt ist es amtlich: Klaus Weinhold hat sich nach mehr als 10 Jahren
unermüdlicher Arbeit aus Altersgründen nicht mehr für das
Amt des 1. Vorsitzenden des Zentrums für Elektronische Musik e.V.
zur Wahl gestellt. Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal allgemein
für die geleistete Arbeit bedanken und im besonderen für die
Impulse, die er mir vermittelt hat. Ich bin gespannt, was an neuen musikalischen
Erfahrungen aus dieser Konzentration seiner Energien folgen wird. Einen
Vorgeschmack bietet sicher sein Artikel in diesem Heft.
Ich bin auch gespannt, was sein Nachfolger Peter Kiethe an neuen Ideen
einbringen wird, mit der Soundausstellung in Friedrichshafen hat er sich
ja bereits bestens eingeführt
Auch Gerda Schneider hat sich aus Altersgründen nicht mehr als
Schriftführerin zur Wahl gestellt, ich und meine Redakteursvorgänger
haben ihr besonders für die unermüdlichen Korrekturlesearbeiten
zu danken, ohne die dieses Heft nicht so realisierbar gewesen wäre.
Auch in diesem Fall wird von zukünftiger Passivität nicht die
Rede sein, Frau Schneiders Artikel sagt alles.
Als Nachfolger wurde Hubert Arnolds gewählt, der schon in dieser
Ausgabe den Druckfehlerteufel in Schach hält.
Relativ neu im Verein und neu als Autor ist Stephan Kirchhoff, ich
denke sein Artikel ist ein guter Einstieg.
In dieser Ausgabe kann ich mich also als an einer großen Zahl
"fremder" Artikel erfreuen, ich hoffe daß das auch in Zukunft so
bleibt.
Rettbehr Meier
↑
Peter Kiethe
Was ist Csound?
Dies ist der Anfang einer
Artikelreihe über das beliebte Softwaresynthese-Werkzeug Csound. Dieser
erste Artikel soll klären was Csound überhaupt ist und wie man
damit arbeiten kann. Es werden die Vor- und Nachteile dieser Arbeitsweise
diskutiert.
1. Was ist Csound?
Csound ist eine der am meisten verbreiteten Programmiersprachen für
die Entwicklung von Musikstrukturen und Klangdesign. Insbesondere zum Sound-Design
geeignet, lassen sich aber auch komplexe Kompositionen in Csound erstellen.
Wie bei einer Programmiersprache gibt der Komponist, Produzent bzw. Sound-Designer
Zeile für Zeile Befehle in einen Texteditor ein, die nach dem Erstellen
dieses Source Codes mit dem Programm Csound kompiliert werden. Am Ende
dieser Kompilierung steht eine Klangdatei, z.B. im RIFF (.wav) oder .aif
Format. Eine solche Befehlsfolge (stark vereinfacht und in natürlicher
Sprache) könnte so aussehen:
1 Nehme einen Sinus
2 Weise dem Sinus die Frequenz 440 Hz zu
3 Weise dem Sinus die Lautstärke -5dB zu
4 Spiele den Sinus genau 5 Sekunden lang
Dieses kleine Beispiel soll nur das Prinzip der Arbeit mit Csound verdeutlichen.
Natürlich kann man diese Zeilen so nicht übernehmen, denn Csound
ist eine künstliche Programmiersprache, da gibt es strenge formale
Regeln, die Programmsyntax, und einen Befehlssatz mit denen gearbeitet
werden muß.
2. Was für Schwierigkeiten treten bei der Arbeit mit Csound auf?
Bis hierhin sind schon einige Merkmale der Arbeit mit Csound zu erkennen.
Wer die spontane, unkomplizierte Klangerzeugung liebt, wird es schwer mit
Csound haben. Bevor man einen Klang hören kann, müssen teilweise
seitenlange Source-Codes geschrieben werden. Wer nicht die Geduld und den
Willen hat, sehr dezidiert an den Klang heranzugehen, ist mit Csound schlecht
beraten.
Ebenso trifft das Wort Echtzeit nicht auf das Programm zu (es gibt
allerdings einige Implementationen auf sehr leistungsfähigen Rechnern,
die dies per Midi erlauben). Hat man endlich einen hoffentlich richtigen
Source-Code geschrieben, muß dieser vom Programm kompiliert und in
die Sound-Datei umgesetzt werden. Das kann mitunter, auch im Zeitalter
von mit Gigahertz getakteten Prozessoren, sehr zeitaufwendig sein. Erst
danach kann man das Resultat hören.
Ein weiterer Punkt ist für den Musiker die hohe Einstiegshürde,
der fehlende, schnelle Erfolg. Mit Csound zu arbeiten, ist wie das Erlernen
einer Sprache. Man muß ständig üben und Neues dazu lernen.
Dabei kann es sein, daß die Erfolge zunächst recht dürftig
sind. Einen Sinus über 10 Sekunden zu erzeugen, und dabei von 440
Hz auf 220 Hz gleiten zu lassen, ist zunächst nichts besonderes und
musikalisch nicht sehr interessant. Für einen Csound Anfänger,
der vorher noch nie etwas mit Programmiersprachen zu tun hatte, bedeutet
es schon eine Anstrengung solch ein primitives Programm zu schreiben. Durchhaltevermögen
und Disziplin sind für den Musiker also von Nöten, wenn er mit
seinem neuen "Instrument" nicht nur Frust sondern auch neue musikalische
Erfahrungen erleben möchte. In einem gewissen Maße muß
man in der Lage sein, den Source-Code wie eine Partitur zu lesen und innerlich
im Voraus zu hören, will man sich nicht zu Tode iterieren.
3. Welche Gründe hat die andauernde Beliebtheit von Csound?
Die Beliebtheit dieses Programmes, durch die unzähligen Hilfsprogramme,
Infos und Webseiten im Internet verdeutlicht, legt nahe, daß irgend
etwas an dem Programm ist, was die Musiker (oder sind es Informatiker,
Physiker ... ) reizt. Ich empfange täglich durchschnittlich 20 E-Mails
von interessierten Csound Programmieren aus der Csound Mailing Liste. Zum
Vergleich, in einer Schulmusiker Mailing Liste freue ich mich, wenn in
der Woche 3 E-Mails eingehen. Und ich denke, es gibt wirklich gewichtige
Gründe mit diesem Programm zu arbeiten.
Gerade die oben angesprochene Genauigkeit, die das Programm erfordert,
kann ein großer Vorteil sein. Man stelle sich folgendes Szenarium
vor: Das Sprachsample "Musik" soll 31.5 Sekunden geloopt werden. Innerhalb
dieser Zeit löscht ein 16-poliger Tiefpass-Filter die Frequenzen
zwischen 5200 und 20.000 Hz. Die Filterhüllkurve ist nicht linear
sondern logarithmisch. Außerdem verändert sich der Klang innerhalb
seines Klangspektrums. Zu Anfang hört man eine männliche Stimme.
Der Klang morpht zu einer Frauenstimme. Als zweite Stimme hört man
auf dem linken Kanal einen Klang mit 50 frei programmierbaren Teiltönen.
Jeder Teilton hat eine eigene Lautstärken- und Frequenzhüllkurve.
Das Ergebnis dieses Klangs wird dynamisch verzögert um 10 bis 500
ms auf dem rechten Kanal wiedergegeben. Beide Klänge verändern
ihre Stereoposition, gesteuert durch unterschiedliche LFOs. Auf
der halb-linken und halb-rechten Kanalposition hört man durch Physical-Modelling
erzeugte klarinettenartige Töne, die fluktuierende Impulse im Frequenzspektrum
zwischen 200 und 1000 Hz spielen, wobei sie per Zufallsgenerator wechselnde
Anblasgeräusche simulieren.
Dieses Szenarium könnte noch fortgesetzt werden. Es gibt keine
Grenzen außer die der eigenen Phantasie. Die Möglichkeiten der
Klanggestaltung umfassen alles, was mir bisher bekannt ist. Von absolut
freier Additiver-Synthese, Subtraktiver-Synthese mit den unterschiedlichsten
frei definierbaren Filtermodellen, zu Karplus-Strong-Synthese, Sampling,
FOF-Synthese, FM-Synthese ohne Begrenzung im Operator- oder Modulator-Bereich,
Physical-Modelling, Granularsynthese usw. Csound ist Public Domain, das
heißt, es ist nicht geistiges, finanziell verwertetes Eigentum einer
Person oder Körperschaft, dadurch kann jeder bekannte Algorithmus
ohne Lizenzprobleme eingebaut werden.
Alles, was zu hören ist steht im Source-Code, daß heißt
man hat eine permanente, schriftliche Grundlage, kann Versionen erzeugen,
exakt abändern, und auch nach langer Zeit wieder zu Vorgängerversionen
zurückkehren, ohne daß dabei das kleinste Detail verlorengeht.
Eine kleine Menge von Zeichencodes in der Source erzeugt per Csound Megabytes
oder gar Gigabytes an Audiodateien, stellt also eine komprimierte Darstellung
der Audioinformation dar.
Jeder Parameter läßt sich absolut frei definieren, d.h.
keine Einschränkung im Frequenzbereich oder in der Lautstärke,
keine Einschränkungen bezüglich der Stimmenanzahl, die Off-Line-Berechnung
ermöglicht absolut sauberes Timing, ohne Latenzprobleme. Wer eine
Syntheseform vermißt kann sie selbst in Csound definieren. Ständig
gibt es neue Updates mit den neuesten Befehlserweiterungen - und alles
kostenlos, lauffähig auf einem Computer, den kein Fünftklässler
mehr eines Blickes würdigen würde.
4. Wie werden Klangdateien mit Csound erzeugt?
Um mit Csound auf einem IBM-kompatiblen PC unter Windows/DOS zu arbeiten,
braucht man das DOS-Programm csound.exe. Das Programm wird in einer DOS-Box
per Kommandozeile aufgerufen, dabei werden die Flags und der Pfad zu den
beiden Dateien, die den Source-Code beinhalten, angegeben. Diese Sourcen
werden mit einem Texteditor erstellt: Eine sog. Orchestral Datei, mit dem
Suffix .orc, und eine Score-Datei, kurz .sco. Im .orc wird der Klang definiert.
Hier wird programmiert, ob der Klang ein einfacher Sinus ist oder ein komplexeres
Klanggebilde darstellt. Das Wort Score bedeutet "Partitur", daher wird
im .sco der Ablauf des Stückes programmiert. Es wird angegeben welcher
Klang zu welcher Zeit gespielt werden soll. Die Flags sind optionale Parameter,
die definieren, wie Csound arbeiten soll. Man bestimmt in welchem Format
die Klangdatei ausgerechnet werden soll, ob mit Midi-Dateien gearbeitet
werden soll, welchen Wave-Treiber das Programm zur Ausgabe des Klangs benutzen
soll, wie die Rückmeldung des Programms auszusehen hat und einiges
mehr. Eine Kommandozeile kann folgendermaßen aussehen (Achtung, alles
muß in eine Zeile, was hier satztechnisch nicht möglich ist):
csound -w -m7 test.wav c:\csound\test.orc c:\csound\ test.sco
Das Flag -W fordert. die Sound-Datei im .wav Format anzulegen, das Flag
-m7 gibt an, daß nach der Kompilierung die höchste Amplitude,
die Anzahl der Samples die außerhalb des maximalen Amplitudenbereichs
liegen und Fehlermeldungen angezeigt werden. test.wav ist der Name der
Klangdatei, die erzeugt wird. c:\csound\test.orc ist der vollständige
Pfad des .orc-Files, c:\csound\test.sco der des .sco-Files.
5. Wie installiert man Csound?
Hat man eine Csound Version aus dem Internet heruntergeladen, so sollte
diese in den Ordner csound entpackt werden. Die DOS Hilfsprogramme gehören
in einen Unterordner namens bin. Unter DOS/Windows kann in der Datei autoexec.bat
der Pfad für die erzeugten Sound-Dateien angegeben werden. Ebenso
sollte ein Pfad für Sound-Dateien, die Csound als Eingabe für
eine Kompilierung verwendet und ein Pfad für Analyse-Files angegeben
werden. Der zu ergänzende Eintrag in der autoexec.bat kann folgendermaßen
aussehen:
set path=%path%;c:\csound\bin
set sfdir=c:\csound\waves
set ssdir=c:\csound\samples
set sadir=c:\csound\analyses
Diese Einträge gelten, wenn für das Programm csound.exe die
Partition c und, wie üblich, der Ordner csound ausgewählt wurden.
Im Ordner csound müssen zusätzlich die Unterordner waves (für
erzeugte Sound-Files), samples (für Sound-Files die als Eingabe benötigt
werden) und analyses (für Analyse-Files) erzeugt werden. In der Datei
config.sys sollte noch eine Zeile ergänzt werden, die speziellen Variablen
mehr Speicherplatz einräumt (z.B. bei Win98):
shell=c:\win98\command\command.com/e:1024/p
Nach dieser Aktion muß der Computer neu gestartet werden.
6. Das erste Csound Programm:
Erzeugen sie nun 2 Textfiles mit den Namen test.orc:
;test.orc
sr = 44100 ; samplerate
kr = 4410 ; kontrollrate
ksmps = 10 ; samplerate/kontrollrate
nchnls= 1 ; channelanzahl
instr 1
a1 oscil 10000, 440, 1
out a1
endin
und test.sco:
;test.sco
f1 0 2048 10 1 ; sinus
i1 0 1
e
Diese Text-Files sollten sich, wie oben besprochen im Ordner c:\csound
befinden. In einer DOS-Box muß nun das Programm Csound wie folgt
aufgerufen werden:
csound -w -m7 otest.wav c:\csound\test.orc c:\csound\ test.sco
Nach einer kurzen Kompilierungszeit sollte Csound eine Meldung über
die höchsten Amplitudenwerte, die Anzahl der Samples die außerhalb
des maximalen Amplitudenbereichs und mögliche Fehlermeldungen, anzeigen.
Das Sound-File befindet sich nun als .wav-Datei im Ordner c:\csound\waves.
7. Wie kann man die Arbeit mit Csound vereinfachen?
Die beschriebene, textorientierte Vorgehensweise erscheint zunächst
im Zeitalter grafischer Oberflächen sehr primitiv und umständlich,
wenn der Kompilierungsvorgang jedoch öfters wiederholt werden muß,
sieht das schon ganz anders aus. Da jedoch viele User nicht mehr mit der
DOS-Shell umgehen können und wollen gibt es eine Vielzahl kleiner
Hilfsprogramme, die einem das Arbeiten mittels grafischer Oberflächen
mit all deren Vor- und Nachteilen ermöglichen, dies sind die sog.
Frontend-Programme.
[Alle folgenden Links sind leider nicht mehr aktiv. Sie seien hier nur noch weiter aufgeführt um evtl. über eine Internetsuche die Nachfolger oder neuen Seiten der "Helfer" zu finden. -der Webmaster]
Ein einfaches Frontend ist Csounder von Omni Digital Systems (www.omnids.com).
Mittels File-Select-Box und Maus wird der Pfad zum .orc- und .sco-File
angegeben. Außerdem übergibt das Programm automatisch die vorher
konfigurierten Flags.
Etwas weiter geht das Programm WC-Shell von Riccardo Bianchini (www.contemponet.com/italiano/contemporanea/news/virtuale.html). Es wird ein einfacher Texteditor
zur Verfügung gestellt. Eine Excel-ähnliche, einfache Tabellenkalkulation
zum Erstellen und Ändern der .sco-Files ist ebenfalls dabei. Unter
Settings kann man Pfade für Wave-Editoren, anspruchsvollere Texteditoren
oder Tabellenkalkulationen und unterschiedliche Csound-Versionen eingeben.
Hilfsprogramme visualisieren das .sco-File.
Noch etwas weiter geht Dave Perry mit seinem Programm Visual Orchestra
(cornelius.dhs.org/visorc/home.htm).
Ähnlich einem modularen Software-Synthesizer kann man grafische Symbole
auf einem Schaltplan miteinander verkabeln und so den Aufbau eines .orc-Files
vereinfachen.
AXC und Silence von Michael Gogins (www.pipeline.com/~gogins/)
sind Frontends die auf Java aufbauen, ebenso der HPK Composer (hplank.inetpc.com/hpkcomposer.html).
Noch in der Entwicklung ist die Betaversion von Quasimodo (www.op.net/~pbd/quasimodo/). Sie läuft auf modernen Unix-Computersystemen (POSIX).
Cecilia ist ein weit verbreitetes Programm für Mac und Linux (www.musique.umontreal.ca/Org/CompoElectro/CEC/).
Ein einfaches aber sehr effizientes Programm ist CSEdit von Flavio
Tordino (www.geocities.com/SiliconValley/Drive/8552/index.htm).
Auf der Csound Frontpage vom Massachusets Institute of Technology findet
man viele nützliche Anregungen und Hilfsprogramme: (mitpress.mit.edu/
ebooks/Csound/frontpage.html).
[Fortsetzung in ZeM Heft 24]
↑
Peter Kiethe / Rettbehr Meier
Blick über
den Zaun
Mit
gehöriger Verzögerung
bringe ich zwei Berichte über externe Veranstaltungen mit rein
elektronischer
Musik, die ja leider immer noch eine seltene Ausnahme im Konzertbetrieb
darstellen. Ich finde es bedenklich, wenn auch größere,
bekannte
Institutionen mit den Akzeptanzproblemen dieser Musik zu kämpfen
haben,
wenn selbst "Klassiker" dieser Gattung in originaler achtkanaliger
Reproduktion,
die man sich eben so nicht zu Hause auf der CD anhören kann, keine
Zuhörer finden. Ist es ein Zeichen von Dekadenz, wenn die Musik,
die
auf der Höhe der Zeit ist, oder die genauer schon fast "klassisch"
auf ihrem Gebiet ist, nicht das Interesse des Publikums findet? Ich
meine:
ja. (d. Red.)
Internationale Radio Promenade Bregenz
Von 12. Juli bis 30. August 1998 fand in Bregenz die
Internationale
Radio Promenade statt. In der Stadt und an der Seepromenade waren
zahlreiche
Klangobjekte ausgestellt. In der Nähe des Kunstvereins waren 4
Lautsprecherboxen
installiert, die ein Tape mit gesampleten und elektronisch verfremdeten
Klängen wiedergab. Auf dem gegenüberliegenden Parkplatz
konnten die erstaunten
Passanten
Kettengeräusche hören und manch parkender Autofahrer nahm
dies
erschrocken als einen vermeintlichen Crash wahr. Mikrophone aus dem
Bodensee
übertrugen Geräusche an einen Lautsprecher, der auf dem
Kirchturm
in der Oberstadt installiert war. Auf ähnliche Art und Weise wurde
in der ganzen Stadt mit den Stimmungen und Verhaltensweisen der
Bevölkerung
gespielt. Eine Klangausstellung wurde im Palais Thurn und Taxis
vorgestellt. Im
Park konnte man mit einer elektronischen "Wünschelrute"
ausgestattet
einem vorgegebenem Pfad folgend auf Klangsuche gehen. War man auf dem
richtigen
Weg, so vernahm man ein Tape mit gregorianischen Chorälen,
Wassergeräuschen,
Geflüster und Gesprächsfetzen. Zu der Klanginstallation
schreiben
die Künstler: "Divining for Lost Sound verbindet
zeitgenössische
elektronische Technologie in Form von Radiowellen und
elektromagnetischen
Feldern mit dieser uralten Technik des Rutenganges. Die Arbeit versucht
eine Überbrückung der Zeit. Sie versetzt das Publikum in die
Rolle des Wünschelrutengängers, während sie ihm
Klänge
vermittelt, die es in die Vergangenheit zurück versetzen. Die
Arbeit
benutzt Technologien und Techniken, die von Leon Theremin um 1920
entwickelt
wurden". Spoken for/Spoken about von William Furlong war eine oktophone
Klangcollage
aus einigen Stunden Tonmaterial. Bregenzer Passanten wurden elf
einfache
Fragen zu ihrer Stadt gestellt. "Fragmente wie einzelne Wörter,
Sätze
oder Umgebungsgeräusche wurden zu einem neuen Band
zusammengesetzt."
In dem Kellergewölbe des Palais fand man abschließend 4
stereophone
Installationen bei denen mit Sampling-Technologie Wortfragmente
bearbeitet
wurden und durch einen HD-Recorder endlos wiederholt wurden.
Alles ähnelte den unsrigen Ausstellungen in Emmendingen-Wasser
oder Emmendingen, auch die Tatsache, daß der Autor dieses Artikels mit
einer
weiteren Besucherin allein das Auditorium darstellte. Hoffnung dagegen
macht, daß es noch mehr Klangkünstler zu
geben gibt, die unsere Pfade der Kunstauffassung zu gehen scheinen.
Vergleicht man die Produktionen mit denjenigen, die bei
ZeM-Veranstaltungen
wiedergegeben werden, so kann sich das ZeM-Material mit allen messen
und
ist in keinster Weise von minderer Qualität, eher das Gegenteil
ist
der Fall.
pk
Historische Tonbandmusik
Am 2. Juni 1999 fand im Konzertsaal der Musikhochschule
Freiburg die
"vorEcho" Veranstaltung "Historische Tonbandmusik" statt. Das dortige
Studio
für Elektronische Musik des Instituts für Neue Musik bot in
der
Klangregie von João Rafael folgende Werke dar:
"It´s gonna rain" von Steve Reich (1965). Diese
ekstatisch gepressten
drei Worte eines Straßenpredigers zur alttestamentarischen
Sintflut
montierte Reich im ersten Teil des Stücks zu
Tonbandendlosschleifen,
die zunächst unisono, dann kanonartig auseinanderlaufend,
rotierende,
ja hypnotisierende Wirkungen entfalten, bis sie zum Schluß wieder
im Unisono zusammenkommen. Im zweiten, komplexeren Teil werden weitere
Fragmente der Predigt ("knocking upon the door, let´s showing up,
alleluja god, I didn´t see you") eingeführt, wobei aus zwei
"Stimmen" mittels zeitlicher Verschiebung z. T. eine "Achtstimmigkeit"
entsteht. Diese historische Aufnahme hat eine gewisse Aura, ja es
haftet ihr
eine Patina an, LoFi würden wir heute sagen. ZeM-Besucher kennen
diese
Machart sicher von vielen Weinholdschen "Oktophonien", Reich hat diese
Methode eben 30 Jahre vorher für sich entdeckt.
"Epitaph für Aikichi Kuboyama" von Herbert Eimert (1962)
arbeitet
auch ausschließlich mit Sprachklängen, allerdings sauber in
Studio des WDR aufgenommen. Es geht jedoch in der Bearbeitung
wesentlich
weiter als das Reichsche Stück. Im ZeM-Archiv ist eine
Originalaufnahme
des Komponisten vorhanden, die eine hervorragende Werkeinführung
bietet,
indem die einzelnen Bearbeitungsschritte separat demonstriert werden.
Trotzdem
gehe ich etwas ins Detail: Ausgangsmaterial ist eine Grabinschrift, ins
Deutsche übersetzt von Günter Anders. Nur die ersten Worte
sind
noch verständlich, danach werden alle damals technisch
möglichen
Verfremdungen eingesetzt, Timestretching, Looping, Pitch-Shifting
würden
wir heute dazu sagen, dazu jede erdenkliche Art von Schnitten und
Neuzusammenstellungen
des Audio-Materials, bis weit unter die Silben-Ebene in den Bereich der
einzelnen
Phoneme hinab. Das Werk ist wohlstrukturiert, zuerst kommt die
Einleitung
mit dem noch verständlichen Sprecher, die dann überblendet in
den ersten Teil der Verfremdung, in dem gleitende
Tonhöhenveränderungen
dominieren. Im zweiten Teil treten impulsartige, durch die
Schneidetechnik
erzeugte Verfremdungen hervor, während im dritten Teil sehr tiefe,
posaunenartige, zähflüssige Strukturen vorherrschen.
Möglicherweise
kommt hier die Röhrenfilterbank des Studios mit sehr starker
Resonanz zum Einsatz. Eimert sagt dazu in seiner Werkeinführung
leider
nichts, man kann es nur an Hand der Eimertschen
Streichquartettbearbeitungen
auf demselben Tonträger vermuten. Den Schlußteil bildet eine
langsam aus der Stille hervortretende Struktur, die in den nun wieder
verständlichen,
abschließenden Worten "als Namen unserer Hoffnung" endigt.
Sicherlich ein hochinteressantes Dokument und schönes Werk, doch
eine Frage stellte sich mir dabei schon immer: wenn der
größte
Teil des zu Grunde liegenden Poems absolut unverständlich bleibt,
hätte es keinen Unterschied gemacht, wenn der Sprecher das "ABC"
aufsagt,
oder aus der Zeitung vorliest. Akustisch wäre das nahezu
gleichwertig.
Wieso also dieser Text?
Das ist der Programmhefttrick, oder Aufhängertrick. Einfach so
für
sich hat diese Musik für den Zuhörer wenig Bedeutung. Durch
das
Programmheft und durch den Aufhänger "Opfer der Wasserstoffbombe"
ist das anders.
Eine glänzende PR im Zeitalter des
kalten Krieges.
Vielleicht hat die Geschichte Eimert ja auch wirklich bewegt, auf jeden
Fall hat er hier alles richtig gemacht, das Stück sowieso, und
auch
die PR, und so ist es in jedem Lexikon als sein Hauptwerk aufgelistet.
Möglicherweise würde das Band ohne Poem und mit "ABC", aber
akustisch gleichwertig, in irgendeinem
Archiv vor sich hin schimmeln und wir hätten nie dieses wirklich
beispielhafte
Stück zu hören bekommen.
"Studie II" von Karlheinz Stockhausen (1954) ist ein
frühes Werk
dieses "Pioniers der E.M." in serieller Kompositionstechnik. E.M. ist
erstaunlicherweise
auch heute noch, nach 46 Jahren, in vielen Köpfen synonym mit
"Stockhausen",
obwohl doch nur der geringste Anteil der Stockhausenschen Arbeit dieser
Gattung zuzurechnen ist. Wir können daher vermuten, daß
diese
Werke sehr schockierend und damit öffentlichkeitswirksam
waren. Gemäß der damaligen seriellen Doktrin wurde mit
Sinustönen
gearbeitet, deren Frequenz und Dauer durch recht komplizierte
arithmetische
Überlegungen, man könnte sagen Algorithmen, bestimmt waren.
Es
gibt in dem Werk Reihen von Tonhöhen und Tondauern, die sich
kompositorisch
entsprechen, indem sie auf denselben Faktor zurückzuführen
sind,
nämlich die 25. Wurzel aus 5. Die Zahl 5 spielt weiterhin eine
Rolle,
indem bis zu fünf Sinustöne ein Tongemisch ergeben, ein bis
fünf
Tongemische eine Element bilden, das wiederum fünfmal in der
nächst
höheren Hierachie-Ebene enthalten ist, usw. Man mußte 1954
wirklich total enthusiastisch gewesen sein, um
die Handarbeit dieser Aufnahmen auf sich zu nehmen, denn neben der
Rechnerei
waren der Sinusgenerator vom Rundfunktechniker und das Tonband mit
Schneid-Klebe-Vorrichtung
nebst Zentimetermaß die einzigen Werkzeuge. Hunderte, ja Tausende
von Einzeltonaufnahmen, von Schnitten, dann das Archivieren der
Schnipsel
bis zum Kleben, wobei die Zeitdauer der Töne in Bandzentimetern
berechnet
werden mußte. Das Problem des Serialismus war damals zweifach:
herkömmliche
Instrumente konnten die Klangfarbe nicht frei variieren, also war
dieser
Parameter dem Komponisten nicht zugänglich. Und herkömmliche
Musiker konnten diese Partituren nicht spielen, ja sie weigern sich
sogar.
Insofern war die E.M. die einzige Möglichkeit zur Realisation der
"totalen Serialität", wahrscheinlich war das die Motivation, die
schwere
Arbeit zu leisten.
Man hätte das Wort "Sinus" bisher eigentlich stets in
Anführungszeichen
setzen sollen, denn was man da hört, ist, bedingt durch die
Bandsättigung,
die Ausrüstung von 1954 und das Altern des Materials, keineswegs
sinusförmig, sondern reichlich mit Verzerrungen versehen, wenn
mehrere
"Sinustöne" zusammen klingen, dann zusätzlich noch mit den
entsprechenden
Intermodulationsprodukten. 1954 war man gar nicht in der Lage, einen
Sinus
als solchen erkennbar aufzuzeichnen! Das birgt schon eine gewisse Komik
in sich. Eine heutige Aufnahme des Werkes würde ganz anders
klingen,
da die geschilderten Artefakte wesentlich reduziert wären, die
ganze
Patina, das LoFi wäre dahin. Das zu Hörende entspricht also
keineswegs dem theoretischen
Überbau.
Man hört keinen Sinus, und man kann die komplizierten,
mühevoll
konstruierten kompositorischen Beziehungen ohne Meßgeräte
kaum
nachvollziehen. Der Aufwand der Komposition und der Aufnahme steht in
keinem
Verhältnis zum Ergebnis, man hätte genauso gut die
Sinusschnippsel
zufällig aneinanderkleben können, über weite Strecken
würde
man den Unterschied gar nicht bemerken. Dafür sorgen schon die
erwähnten
Artefakte. Die Komponisten haben das sehr bald gemerkt, und
so
war der Serialismus in der strengen Form auch für die Avantgarde
sehr
schnell erledigt. Natürlich macht es sich hinterher besser, wenn
der Komponist einen
genau ausgearbeiteten Plan nebst Partitur einreichen kann, anstatt
einfach
zu sagen: "ich habe es gemacht, wie es mir in diesem Moment richtig
erschien".
So sind eben die Gepflogenheiten im Geschäft.
"Visage" von Luciano Berio (1960/61) arbeitet wieder mit
Sprache, aber
diesmal ist keine Verfremdung festzustellen, das Tonband dient nur zur
reinen Aufnahme der Vokalakrobatik der Sprecherin/Sängerin. Alle
Möglichkeiten
der Stimme, vom Flüstern bis zum Brüllen kommen zum Einsatz,
in verschiedenen Sprachen, aber selten verständlich.
Demgegenüber
sind die elektronischen Komponenten des Werkes dezent, mir fast nicht
mehr
erinnerlich. Mir war die dem Stück innewohnende Information zu
dürftig,
d. h. es wurde irgendwann langweilig, außerdem geht einem die
Stimme
nach einiger Zeit ziemlich auf die Nerven. Wenn das die Absicht des
Komponisten
war, so ist dieses Ziel zu 100% erreicht worden. Als anekdotische
Randnotiz sei erwähnt, daß das Werk 1960
der Zensur zum Opfer fiel, bestimmte Stöhn-Passagen waren den
Sittenwächtern
offenbar suspekt, vielleicht ein kleiner Skandal, der den Eintrag in
die
Musikgeschichtsbücher noch stets erleichtert hat.
Möglicherweise
wäre diese Aufnahme sonst heute bereits vergessen.
Nach der Pause kam das oktophone "Persepolis" von Iannis
Xenakis (1971)
zur Aufführung, eine konzertante Audio-Version eines
Multimedia-Laser-Fackeln-Feuerwerks-Spektakels
über die Hauptstadt des altpersischen Reiches. Eine Stunde lang
wogten
sehr geräuschhafte Strukturen durch den Raum, 55 Minuten zu lang,
wenn Sie mich fragen. Nach einer Weile hat man sich mit dem oktophonen
"rosa Rauschen" abgefunden, man beginnt, eher stimuliert durch den
Prospekt,
sich Schlachtenlärm, das Rauschen der Geschichte vorzustellen,
genauso
wie man auf einer weiß gekalkten Wand nach einer Viertelstunde
die
tollsten Figuren und Visionen erkennen kann. Auch hier wurde zu lange
zu
wenig Information geboten, und dann wird es langweilig. Ohne Multimedia
war der Bezug auf Altpersien überhaupt nicht
nachvollziehbar,
wie denn auch, dies kann reine Musik nicht leisten, dies kann nur das
Bild,
der Text, das gesprochene Wort. Aber es klingt zugegebenermaßen
sehr
interessant als Werkstitel. Eine Variation des
Programmhefttricks. "Persepolis" macht eben mehr her als "60 Minuten
rosa Rauschen" oder
"Studie I". Es ist eben immer dasselbe, Komponisten glauben, daß
ihre Musik nicht alleine bestehen kann, es muß eine Geschichte
dazu
her, eine Theorie oder wenigstens eine tolle grafische Partitur. Die
Erfahrung
gibt ihnen wahrscheinlich recht, nicht umsonst wird bei
Kompositionswettbewerben
ausdrücklich neben der Einsendung des DAT-Bandes, was ich
verstehe, auch die Einsendung von "Begleitmaterial" verlangt,
was ich nicht verstehe, die Juroren sollen doch ihre Ohren aufsperren und aufmerksam
zuhören,
und nicht dabei in Schrifttum blättern.
Insgesamt war der Besuch der Veranstaltung sehr lohnenswert,
den wo
und wann kann man Originalaufnahmen der klassischen E.M. sonst
hören,
und dies auch noch oktophon. Ich danke den Organisatoren für die
sicher
nicht unerheblichen Bemühungen, die Beschaffung der Aufnahmen, das
Umkopieren auf ADAT, und des Restaurierens, der Zahn der Zeit nagt
unerbittlich
an den Originalbändern. Hoffentlich wird so etwas in Freiburg
wieder stattfinden. Ich sage
das so, weil die Zuhöreranzahl (ca. 35, wenn man von den Helfern
einmal
absieht) für eine Stadt wie Freiburg einfach beschämend war,
noch dazu an einer Institution wie der Musikhochschule. Die wenigen
Zuhörer
verloren sich im Konzertsaal, wo waren die Studenten, wo die
Professoren?
Es handelte sich doch immerhin um "bekannte Werke bekannter
Komponisten"
dieses Jahrhunderts, um echte Klassiker, nicht um irgendwelche
Neutöner.
Niemand verlangt, diese Musik zu mögen. Aber man muß doch
wenigstens
die geschichtliche Relevanz akzeptieren. Man stelle sich ein
Physikseminar
im Jahre 2000 vor: Relativitätstheorie? Nie gehört. Quanten?
Was ist das? Das wäre undenkbar. Aber an einer Musikhochschule
geht
das offenbar glatt durch. Ist die Musik dieses Jahrhunderts von
Interesse
an dieser Hochschule, in dieser Stadt? Offenbar nicht. Das gilt nicht
nur
für Freiburg (siehe Bregenz), und ich würde sogar vermuten
das
gilt im ganzen deutschsprachigen Raum.
rm
↑
Torbe Reyber
Interview mit einem Neo-Trautonisten
Das Trautonium ist eines
der ältesten Elektrophone (um 1930). Die wichtigste Eigenschaft ist
die stufenlose Tonhöhen- und Tonstärkenkontrolle über die
"magische Saite". Mehr über dieses faszinierende Instrument ist z.B.
im "Synthesizer von Gestern"-Buch, Teil 2 von Mathias Becker zu erfahren
oder im Internet und (www.deutsches-museum-bonn.de). Ich habe Dr. Jörg
Schmitz (JSchmitz at patho punkt bonn punkt com) in einer Mailing Liste für elektronische Selbstbauinstrumente kennengelernt.
Als er seine Fortschritte beim Selbstbau eines Trautoniums beschrieb, war
ich sofort begeistert. Mit diesem Mann wollte ich gern ein Interview machen.
Das Interview fand dann als mehrfacher E-Mail-Austausch statt und ich habe
einige Bilder und Zeichnungen vom Autor bekommen.
t.r.: Viele Mediziner waren exzellente Musiker. Wie kommst Du
ausgerechnet auf elektronische Musik? Warum nicht Geige oder Klavier?
j.s.: Dafür gibt es biografische Gründe, ich bin im Ausland
(Marokko, Togo, Nigeria) aufgewachsen. Dort war an eine musikalische Ausbildung
nicht zu denken. Musik hat mir aber immer viel Spaß gemacht, und
ich habe sehr viel Musik gehört. Wieder in Deutschland nahm ich dann
Geigenunterricht. Das hat so lange Spaß gemacht, bis die Geigenlehrerin
einmal sagte: "Na, richtig gut wird man auf der Geige sowieso nur, wenn
man sie mit 3 Jahren zu spielen beginnt". Da war ich dreizehn und das war's
dann auch mit der Geige. Irgendwann hörte ich dann "War of the Worlds"
von Jeff Wayne, Jean Michel Jarre und Kraftwerk, auch Wendy Carlos, alles
Musik, die mich stark beeindruckte. Zwei Jahre später - ich wollte
unbedingt selber elektronische Musik machen - kaufte ich mir einen MS20,
den ich 4 Jahre hatte. Mit selbsterlernter Klaviertechnik, einer Tonbandmaschine
mit Echo-Funktion sowie dem MS20 habe ich dann in der Schule Experimente
gemacht.
t.r.: Wie kommt man dann noch auf den Selbstbau? Du bist ja Pathologe...,
ich habe früher alle Verwandten genervt, weil ich jedes Spielzeug
sofort aufgemacht habe, um zu sehen, wie das funktioniert. Jetzt nach 30
Jahren kann ich es aufmachen, und danach auch wieder zumachen, so daß
es sogar besser funktioniert... ist es so etwas ?
j.s.: Nein, das hat mit Pathologie und dem Aufmachen nichts zu tun
(übrigens: der Pathologe, nur um dieses Vorurteil kurz aufzugreifen,
macht sehr selten Sektionen an Verstorbenen. Es geht im wesentlichen darum,
Diagnosen an chirurgisch entfernten Geweben zu machen, also zum Beispiel
: ist der Leberfleck, den der Hautarzt entfernt, vielleicht doch bösartig? Es ist vielmehr die Einsicht, daß die
Dinge, die Du im Laden kaufen kannst, meist nicht das bieten, was Du willst.
Zum Beispiel ein Kästchen für den Tisch, in dem ein Joystick,
ein paar Wheels und ein Step-Sequencer untergebracht sind. Damit kann man
wunderbar die modularen Synths im Hintergrund ansteuern, ohne zwischen
den Kabeln durchpfriemeln zu müssen. So etwas gibt's nicht zu kaufen,
also hab´ ich das selber gebaut. Auch der Preis spielt eine Rolle.
Selbst das preiswerte (und übrigens gar nicht sooo schlechte) A-100
System kann man durch Selbstbau noch billiger machen. Und für richtig
witzige Sachen braucht man eben auch richtig viele Module, der Spaß
wird also teuer. Und das Gehalt als Assistenzarzt in der Pathologie ist
nicht besonders üppig.
t.r.: Und jetzt Trautonium. Ist das nicht total out?
j.s.: Ich weiß nicht. "Out" kann nur etwas sein, was mal richtig
"in" war. Und das gilt fürs Trautonium ja nun nicht. Wer kennt schon
den Namen "Oskar Sala", oder gar das Instrument, auf dem er spielt ? Natürlich
ist es nicht MIDI-fähig (was mit einem Microcomputer oder Microcontroller
wahrscheinlich gar kein so großes Problem wäre), und einigermaßen
begrenzt in seiner Anwendungsmöglichkeit. Aber es gibt ja auch Spezialinstrumente
in der EM, ein blödes Beispiel: die TB303 wird nur in ein oder zwei
ganz speziellen, aber im Unterschied zum Trautonium sehr erfolgreichen
Musikstilen verwendet.
t.r.: Ach so, ich dachte immer, es gäbe überhaupt nur ein
einziges, ständig wiederholtes Stück in dieser Art von "E.M.".
Kleiner Scherz. Nun gut. Für mich ist gerade ein entscheidender Vorteil,
daß ich bei elektronischer Musik von diesem stupiden Üben wegkomme,
weg von dieser Mechanik, hin zu kreativem Gestalten. Ich laufe ja z.B.
auch nicht mehr zur Arbeitsstelle, sondern benutze ein Hilfsmittel (Auto,
Fahrrad). Ist das Trautonium nicht ein Rückfall in die gute alte Virtuosenzeit?
j.s.: Im Grunde stimmt das. Ich frag mich manchmal auch, warum ich
das nachbaue. Es ist vielleicht einfach, weil es etwas Besonderes ist.
Nur Oskar Sala hat so etwas. Und er macht darauf eine Musik, die einzigartig
ist. Diese Einzigartigkeit wird zu 90% von Oskar Sala bestimmt, aber 10%
davon sind auch dem Instrument zuzuschreiben. Man kann damit Sachen machen,
die mit keinem anderen Instrument möglich sind. Es gibt zwar von Oberheim
(?) so eine Art Touch-Pad, welches 5 "Klavieroktaven" lang ist. Wenn es
noch drucksensitiv wäre (ich weiß nicht, ob es das ist), käme
man schon so in etwa dahin. Aber das Bandmanual ist irgendwie griffiger.
Natürlich auch eine Herausforderung. Und ich weiß nicht, ob
ich es überhaupt jemals so gut spielen kann, daß man das Ergebnis
Musik nennen darf. Die "gute alte Virtuosenzeit" hat für mich eigentlich
nichts negatives. Ein Virtuose legt seine kreativen Gestaltungsmöglichkeiten
voll und ganz in ein Instrument, daß er perfekt beherrscht. Jemand,
der es versteht in kurzer Zeit ein x-beliebiges Modulsystem perfekt zu
patchen, und dabei gutklingende Sachen zustandebringt, ist für mich
auch ein Virtuose. Im Grunde jeder Künstler, der von einer größeren
Allgemeinheit gerne "konsumiert" und geschätzt wird, und zwar aufgrund
seiner Einzigartigkeit. Virtuose auf dem Gerät werde ich nie sein,
und wahrscheinlich wird es auch nie eine Aufnahme geben. Ich habe es für
mich gebaut, weil es mir so sehr gefällt (das Konzept, der Klang,
die Spielweise). Der Vergleich mit dem Fahrrad/Auto ist gut. Man könnte
nämlich erwidern: wenn man zu Fuß läuft, bekommt man seine
Umgebung am besten mit. Man hört und riecht und sieht alles am ausgiebigsten,
woran man vorbeiläuft. Aber natürlich ist es richtig, das elektronische
Musik den Vorteil hat, daß jemand, der kein Instrument spielen kann,
aber trotzdem musikalisch ist, immer etwas brauchbares zustande bringt.
Das gilt für das Bandmanual nicht.
t.r.: Na, na, na, nicht so pessimistisch. Sala war Pianist (soweit
ich weiß), hat also vor dem Trautonium die Saiten nie berührt.
Ich denke, wenn jemand soviel Aufwand betreibt, wird er sicher hinterher
das Instrument recht gut beherrschen. Und schließlich kommt es ja
nicht unbedingt darauf an, möglichst viele Töne in möglichst
kurzer Zeit abzusondern, in diesem Falle würde ja das Ohr die Besonderheit
des Trautoniums gar nicht mehr erfassen können, d.h. die Slides, das
Vibrato, das Anschwellen, das alles benötigt doch Zeit. Insofern sind
die Chancen, das Instrument zu beherrschen doch gut.
j.s.: Ich hoffe es.
t.r.: Könnte man das Problem der Spielgeschwindigkeit nicht dadurch
umgehen, daß man beide Spannungen (Saitenort und Saitendruck) mit
einer genügend hohen Auflösung digitalisiert (wenn die Saite
50 cm lang ist, und 12 Bit einer Auflösung von 1/4096 entsprechen,
dann ist das also eine Auflösung von 0.122 mm, das sollte reichen,
und etwa 100 Samples pro Sekunde...), im Computer aufzeichnet, korrigiert,
verändert usw. und hinterher beliebig schnell abspielt?
j.s.: Das wäre wirklich gut. 0.122mm reichen locker. Ich weiß
nicht, ob es auf dem Markt CV-MID-Wandler gibt, müsste aber doch.
Wenn jeweils SYSEX-mäßig zwei 7-bit-Worte pro Wert gesendet
werden? Mit 2 solchen Wandlern könnte man das ja schon lösen.
Einer für die Saitenspannung, der andere für Druck.
t.r.: Ich weiß nicht, ob die Auflösung von Midi ausreichen
wird, ich dachte da eher an Computer-Meßkarten. Vielleicht geht es
aber auch mit Midi. Ich sehe da aber Probleme bei der zeitliche Auflösung
der Bewegungen.
j.s.: Ja, das dachte ich mir. Nur, Midi wäre vielleicht noch "universeller"
nutzbar. Aber vermutlich diffiziler. Mit einer Meßkarte wäre
das noch einfacher. Man müsste eine Software haben, die eine 5 oder
6-Kanal Meßkarte, 16 bit, unterstützt und gleichzeitig synchron
zu irgendeinem Triggersignal die aufgezeichneten Daten abspielt. Dann könnte
man das prima in ein analoges Setup einbinden. Das wäre was!
t.r.: Nun, diese Erweiterung ist ja recht unabhängig vom Instrument
und kann auch später noch realisiert werden. Ich komme noch einmal
auf des Motiv für die Mühen des Selbstbaus zurück. Das eigene
Instrument nach eigenen Vorstellungen, ist das also höchster Ausdruck
Deiner musikalischen Individualität?
j.s.: Ja. Es gibt so ein paar Sachen, Melodien, die mir in den Ohren
liegen, die mit einem Bandmanual sehr hübsch klingen müssten.
Und die eben nur mit einem Bandmanual gehen. Die will ich auf jeden Fall
hinkriegen.
t.r.: Welche Eigenschaften sind für den Trautoniumnachbau geplant?
j.s.: Vorab sei gesagt : ich baue kein Original-Mixturtrautonium. Es
soll nur möglichst ähnlich funktionieren, wie das Trautonium
von Oskar Sala, es muß aber nicht genauso aussehen. Ich will damit
sagen: ich werde bestimmt keine wertvolle Eichenholzkonstruktion in Form
eines Trautoniumschränkchens bauen, das dem Gerät im Museum 1:1
ähnlich sieht! Es wird ein zweimanualiges Gerät, einen subharmonischen
Oszillator habe ich selber gebaut, der andere wird von Döpfer sein.
Das wichtigste, nämlich das Bandmanual selber, hat einen Hub von 2,5
cm. Der Abstand der Saite vom Grundblech beträgt 1,5 cm. Die Drehachse
des Gerätes ist kugelgelagert. Ich benutze - im Gegensatz zum Original
- keine konische Federn, sondern zylindrische, die sich durch Drehen im
oder gegen den Uhrzeigersinn in der Spannung verstellen lassen, d.h., man
kann den mechanischen Gegendruck einstellen. Der Hub des Manuals wird mit
einem Photowiderstand gemessen, der seitlich an der Achse angebracht ist.
Auf einen Glycerinwiderstand habe ich verzichtet, ich denke mit einem Photosensor
und einer anständigen Mechanik bekommt man so etwas auch hin. Der
Photowiderstand wird in meinem Gerät von einem Streifen aus Pappe
verdeckt, und je nachdem, welche Form dieser Streifen hat, kann man die
Empfindlichkeit in verschiedenen Positionen festlegen. Ich habe 3 Streifen
geschnitten, jeweils für hohe Empfindlichkeiten im Pianissimo- und
im Fortissimobereich, und einen dazwischen. Diese Streifen kann man wechseln,
aber bisher war mir der "Pianissimo"-Streifen der liebste. Das ist übrigens
genau das, was Oskar Sala als Vorteil des Glycerinwiderstandes lobt: hohe
Empfindlichkeit und Ausdruckskraft im Pianissimobereich.
t.r.: Der Pappstreifen verdunkelt also die Lichtquelle in Abhängigkeit
vom Manual-Saiten-Niederdruck, durch die Form des Streifens läßt
sich die Charakteristik wählen, das klingt sehr vernünftig. Es
ist nicht einzusehen, warum man dafür unbedingt den berühmten
Glycerin-Flüssigkeitswiderstand braucht, es sei denn, dieser macht
auch irgend etwas in zeitlicher Hinsicht...
j.s.: Ja, das war auch meine Überlegung.
t.r.: Ein Cadmium-Sulfit-Photowiderstand braucht ja recht lange, bis
sich der Dunkelwiderstand einstellt. Vielleicht ist da eine Photodiode
besser, weil schneller... Dann könnte man mit einem RC-Tiefpass die
zeitliche Manualdruckcharakteristik sogar einstellen...
j.s.: Das ist wahr, ich habe natürlich auch mit Photodioden experimentiert.
Ein RC-Tiefpaß kommt auch danach, so daß diese Modifikation
ohne größere Umstände möglich ist. Da muß ich
noch ein wenig herumprobieren, die Entscheidung fällt dann, wenn ich
wieder 2-3 Tage Zeit finde, mich damit zu befassen. Im Moment weht ein
rauher Wind im Bereich der Niedergelassenen Ärzte (wo ich ja angestellt
bin), aufgrund der lausigen Gesundheitspolitik in diesem Lande. Deshalb
wird jede freie Minute investiert, um unser Institut besser zu strukturieren.
Das tut zwar nichts zum Thema, erklärt aber, warum ich im zur Zeit
zu nichts komme.
t.r.: Wie weit ist das Instrument denn tatsächlich gediehen ?
j.s.: Ich hatte ja zuerst ein Manual gebaut, um zu sehen, ob ich das
überhaupt hinkriege. Nachdem das geklappt hat, habe ich mich auf die
zweimanualige Version gestürzt. Die zwei Manuale sind jetzt fast fertig
(die Mechanik komplett, die Photowiderstände müssen noch angebaut
werden). Ein Subharmonischer Oszillator ist auch betriebsbereit. Der Oszi
besteht aus dem eigentlichen Subharmonischen (4 Sägezähne, jeder
davon von 1/1 bis 1/16), die Amplitude jeweils spannungssteuerbar, dann
für jeden Sägezahn einen VCF (Multimode), sowie einen Mischer
mit VCA. Der VCA wiederum kann als zusätzliches "Bonbon" von einem
LFO angesteuert werden, dessen Amplitude von einem Differentiator gesteuert
wird. Der Differentiator bekommt als Eingang die Spannung vom Saitenhub.
D.h.: je schneller die Saite heruntergedrückt wird, desto größer
wird die Amplitude des LFO's. Das Ganze werde ich mit einem Schwellwert
versehen, so daß bei nicht so schnellen Bewegungen die LFO-Amplitude
0 bleibt. So kann man sehr hübsch Einschwingtremolos wie bei einer
Trompete erzeugen. Oder auch Einschwingvibrato, wenn das LFO-Signal zum
Masteroszillator führt. Dieser muß übrigens ein VCO mit
sehr hohem Frequenzgang sein. Bis auf die Schaltung mit dem "Bonbon" ist
alles schon gelötet, mit Frontplatten versehen und in ein Holzkästchen
eingebaut, d.h. der Subharmonische Oszillator läuft bereits. Dann
muß ich sowieso erst mal üben, üben, üben, bis dann
Döpfers subharmonischer Oszillator für das "2. Bandmanual" auf
den Markt kommt.
t.r.: Pedale sind nicht vorgesehen?
j.s.: Doch, ja. Ich habe zwei Pedale, die jeweils eine Spannung von
0-5 Volt ausgeben. Damit kann man die Gesamtlautstärke über den
VCA steuern. Die Pedale sind selber geschustert, mit einem normalen Poti
und etwas Mechanik. Vorrausgesetzt, die Potis sind wirklich gut, geht das
ganz
ordentlich. Die Pedale baue ich deshalb selber, weil eine zweite Funktion
mit eingebaut werden muß, die sowieso nicht käuflich ist : der
Schalter links und rechts. Auf dem eigentlichen Pedal ist ein zweites angebracht,
welches um die vertikale Achse nach links und rechts drehbar ist. Dieses
zweite Pedal betätigt am linken und rechten Anschlag einen Mikroschalter,
das Signal wird dann über ein wenig Logik zu einem Analog-Schalter
geführt, der drei Eingänge bekommt : den Master-Oszillator, Master/2
und Master/4. In der Pedalmittelstellung wird auf Master/2 geschaltet.
Linker und rechter Schalter gehen auf Master bzw. Master/4. So bekomme
ich genau das, wofür O. Sala seine Pedale hauptsächlich benutzt:
Das Umschalten von Mixturen, die so eingestellt sind, daß das Mixturverhältnis
gleich bleibt, aber die Tonlage jeweils um eine Oktave hoch oder runtergeht.
So kann man sehr schnell Läufe über 3 Oktaven spielen, ohne die
Fingerstellung wesentlich zu verändern. Da ist meine Methode genauso
gut, benötigt aber nicht 3 Subharmonische Oszillatoren mit je 4 Teilern,
sondern nur die Frequenzteilung des Masteroszillators. Was dann allerdings
nicht möglich ist (kleiner Kompromiß) : man kann nicht zwischen
3 ganz verschiedenen Einstellungen wechseln.
t.r.: Das Oszillatorprinzip mit Teilern von 1/1 bis 1/16 ist wohl noch
original?
j.s.: Nein, das ist es nicht. Sala teilt bis durch 1/24.
t.r.: Ach so, ja das stimmt. Das LFO-Bonbon ist sicher auch Deine Idee?
j.s.: Ja, auch das ist nicht mehr original, verbessert aber meiner
Ansicht nach die Performance des Gerätes. Auch die Filter im Original
sind lediglich Band- und Tiefpaß-Resonanzfilter, mit fest einstellbarer
Eckfrequenz und Resonanz. Da habe ich mich für ein sehr hübsches
Design entschieden, nämlich den EDP-WASP-Multimode-Filter, den Jürgen
Haible mal in der Synth-DIY-Mailingliste ausgegraben hat. Ein feines einfaches
Filterchen. Diesen Filter habe ich 4 mal gebaut. Ich glaube übrigens
nicht, daß man die Teilerfaktoren 17-24 der Subharmonischen so häufig
benötigt. Falls doch, muß ich halt noch mal modifizieren.
t.r.: Multimode-Filter heißt also State-Variable-Struktur, mit
gleichzeitigem
Hoch-, Tief-, Band- und Sperrpass.
j.s.: Ja, der EDP-WASP hatte ein State-Var-Filter.
t.r.: Warum wartest Du auf den Döpfer Oszillator, wenn doch der
eigene so gut funktioniert?
j.s.: Weil mein Oszillator nicht programmierbar ist. Außerdem,
wie gesagt, teilt mein Oszillator nur bis durch 16, der von Döpfer
aber wie im Original bis durch 24. Das größte Problem allerdings
: mir fehlt einfach die Zeit, noch so eine Kiste zu bauen. Das war ein
ganz schönes Gepfriemel, vor allem die paar hundert kleinen Kabel
für die Teiler, zu den Schaltern, und wieder zurück! Ich habe
keine gedruckten Schaltungen entworfen, für die Schaltungen. Das wäre
auch zu viel des Guten, mit Kanonen auf Spatzen, sozusagen.
t.r.: Der Nachbau wird mit Halbleitern bestückt sein, anstatt
mit Röhren?
j.s.: Nur Halbleiter. Mit Röhren kenne ich mich nicht aus. Außerdem
habe ich eine Phobie vor höheren Spannungen als +/- 15 Volt.
t.r.: Das verstehe ich gut. Die Saite ist ja aus Metall... Sie macht
zu einem guten Teil den Sound des Trautoniums aus, wegen der nur damit
möglichen Glissandos, der Intonation. Das interessiert mich besonders.
Wie kommt man zur magischen Saite?
j.s.: Ja, das ist knifflig! Ich habe eine Saite selber gewickelt, mit
dünnstem Konstantandraht um eine lange, nicht gewickelte Gitarrensaite
herum. Das ist allerdings nicht das Gelbe vom Ei: es dauert Tage, bis das
Ding gewickelt ist, und man darf nicht den kleinsten Fehler machen, sonst
ist die Arbeit ganz umsonst. Ich habe dann eine Firma aufgetan, die Cellosaiten
herstellt. Die haben mir dann eine zweite Saite gewickelt, statt dünnem
Kupferdraht eben Konstantandraht! Eine prima Saite! Die Saite wird dann
bloß noch mit zwei Schraubklemmen zwischen den Polen der Stromquelle
aufgespannt, und das war´s schon.
t.r.: Wie verhindert man einen Kurzschluß der einzelnen Wicklungen
auf der Seite? Das würde doch alles unbrauchbar machen. Der Draht
ist daher wohl isoliert. Wie entfernt man gezielt die Isolation ohne solche
Nebenwirkungen?
j.s.: Genau, der Konstantandraht ist isoliert, rundherum. Nach dem
Wickeln muß er ganz ganz vorsichtig mit feinstgekörntem Sandpapier
abgeschliffen werden. Die Isolation zwischen den Drahtwindungen bleibt
natürlich bestehen, abgeschliffen wird ja nur die Oberfläche.
Man erkennt es (nachdem man 1-2 Saiten kaputtgeschliffen hat) an dem Glanz
des Drahtes, aber auch, indem man nach kurzen Schleifphasen immer wieder
mit einem Ohmmeter rangeht. Das Problem, wie gerade erwähnt : passt
man nicht auf, schleift man sehr schnell an einer Stelle zu tief, und dann
reißt der Draht recht schnell.
t.r.: Und wie kann man Kontaktprobleme zur Metallschiene unter der
Saite vermeiden? Putzen mit Stahlwolle? V2A-Stahl?
j.s.: Die Metallschiene besteht aus V2A, richtig. Die wird regelmäßig
mit einem Küchenreiniger für Stahlblech saubergemacht. Auch wenn
ich, wie im Moment, nicht damit spiele. Die Saite wird ab und zu (ich glaube
gar nicht, daß das überhaupt nötig ist, mache es aber trotzdem)
mit einem Wattetupfer gesäubert, der mit Alkohol getränkt ist.
t.r.: Beim Originalinstrument verhält sich die elektrische Saitenspannung
linear zum getasteten Ort, die Frequenz hängt durch die Thyratrons
wohl in etwa quadratisch von der Spannung ab. Ich kann mir vorstellen,
daß die Töne weiter oben dadurch immer dichter auf der Saite
liegen, also immer genauer gespielt werden muß. Ist daran gedacht
worden, etwa elektronisch eine Exponentialfunktion für die Tonhöhe
zu berechnen? Diese müßte ja nicht so genau sein, wie sonst
in den Synthesizern, hätte aber den Vorteil, daß alle Töne
der temperierten Skala gleich weit voneinander entfernt wären ?
j.s.: Laut Oskar Sala ist die Mensur überall linear. Das ist ja
das schöne an dem Gerät! Wenn man sich die Photos vom Spieltisch
anschaut (Synthesizer von Gestern, Teil 2), erkennt man auch, daß
die Hilfstasten über der Saite immer den gleichen Abstand haben, also
auch bei den hohen Tönen. Dann muß das wohl stimmen, was Oskar
Sala sagt. Bei meiner Schaltung spielt das aber sowieso keine Rolle : wie
du schon sagtest, die elektrische Saitenspannung ist linear. Ich brauche
also bloß einen ganz normalen Exponential-VCO als Master Oszillator,
der dann die eigentliche Teilerschaltung des Subharm. Oszillators triggert.
Dann sind alle Töne gleich weit voneinander entfernt. Der Expo-VCO
braucht dabei nicht großartig temperaturstabilisiert werden, denn
diese leichten Schwankungen gleicht man im Sinne des Wortes "spielend"
aus.
t.r.: Sind auch überklappbare "Tasten" geplant, die einen Fixpunkt
bieten?
j.s.: Ja, unbedingt, aber das ist noch in zeitlich weiter Ferne. Ich
hatte mit O. Sala darüber telefonisch mal gesprochen, und er sagte
auch, daß diese Hilfstasten wirklich sinnvoll und manchmal
sehr wichtig sind. Ich habe da noch nicht so genau Vorstellungen davon,
wie ich das genau bauen soll. Das wird mechanisch nicht ganz einfach, und
ich möchte erst mal sehen, ob ich mit dem Instrument überhaupt
klarkomme.
t.r.: Damit kommen wir auf den großen alten Mann, hast Du O.
Sala besucht?
j.s.: Nein, leider hatte ich dazu bisher keine Zeit. Ich habe, wie
gesagt mit Oskar Sala telefoniert, es ging einmal um die "magische Saite",
das andere Mal wollte ich wissen, wie nötig für ihn die Hilfstasten
über der Saite sind. Ich habe dann O. Sala noch einmal vor einem Jahr
in Bonn bei einem "Konzert" erlebt, im deutschen Museum Bonn, live. Es
war kein eigentliches Konzert, sondern eine multimediale Show mit Ton-
und Bilddokumenten (qualitativ hervorragend gemacht!) von und mit Oskar
Sala. Danach habe ich noch mit ihm geplaudert, er ist wirklich reizend.
t.r.: Ja, aus den Radio-Interviews höre ich einen besonderen Humor
heraus. Was hält er von Dir, bzw. dem Nachbau?
j.s.: Naja so weit war ich ja vor einem Jahr noch nicht. Ich hatte
aber den Eindruck, daß er sich sehr gefreut hat, daß jemand
daran denkt, so etwas nachzubauen. Ich bin ja auch nicht der Erste, der
so etwas nachbastelt. Dieter Döpfer ist zur Zeit auch dabei, ein Trautonium
zu bauen. (Auf seiner Homepage erklärt er übrigens das Instrument
sehr schön!) Das Bandmanual läßt er, soweit ich richtig
informiert bin, von einer Fremdfirma bauen. Die Elektronik (Subharmonischer
Oszillator, Stromquelle für die Saite, Photowiderstandselektronik
für Manualhub) hat er schon fertig. Döpfer hat mir geschrieben,
daß Sala sehr interessiert an einer Zusammenarbeit war, er hat allerdings
den Nachbau sehr sehr kritisch begutachtet, vor allem das Bandmanual. Das
scheint ihm am allerwichtigsten zu sein. Z. B. besteht er bei einem Nachbau
sogar auf einem Glycerinwiderstand! Das hat mir D. Döpfer gesagt.
Man muß da schon gewisse Kompromisse eingehen, zwischen dem, was
Herr Sala will, und dem was praktikabel ist. Bei mir ist es sowieso was
anderes, ich will ja kein Gerät zum Verkaufen bauen, sondern für
mich.
t. r.: Ich danke für die interessante Korrespondenz.
Trautonium Bedienoberfläche:
Bandmanual Prinzip
Bandmanuale von vorne:
Bandmanuale von der Seite:
s.a. Elektrische Musikinstrumente.
Ein historischer Rückblick mit zeitgenössischen Dokumenten.6.Teil:
Saitenspiele (1).Das Trautonium - ZeM
Nr. 15 (September 1994)
↑
Klaus Weinhold
Unzeitgemäße Betrachtungen
Am Ende einer Epoche, nach fast 20 Jahren elektronischer Musikproduktion
oder soll man sagen technologischer Komposition, lohnt es sich, kurz inne
zu halten und einige persönliche und sachliche Betrachtungen anzustellen.
Die persönlichen Bemerkungen begännen sicher mit "ich will, ich
möchte" oder "ich wollte", die sachlichen werden sich auf ein "es
ist" oder "es ist nicht" beschränken.
Die Betrachtungen, was auch immer "betrachten" bedeuten mag, sei es
visuell oder intellektuell, richten sich vorwiegend auf den Hintergrund
unserer Arbeit, die zu gestalten in den letzten 20 Jahren die Aufgabe gewesen
ist. Ein Sachverhalt, der nur sehr schwer zu begreifen und zu benennen
ist: Elektronische Musik. Was ist das eigentlich? Es wird bei einer Annäherung
nicht nur an die Sache, sondern an die Frage allein bleiben. Die Betrachtungen
sind eigentlich sehr zeitgemäß, denn das, was das vorige Jahrhundert
an musikalischen Errungenschaften hervorgebracht hat, sind nicht etwa neue
klassische traditionelle Instrumente, sondern eben unsere neue Musiktechnologie,
die im Computer oder DSP oder bestimmten neuen Instrumenten oder z.B. im
Pulsar-Programm sich realisiert.
Die Betrachtungen sind sehr unzeitgemäß, denn es gibt zwar
in diesen Jahren unzählige, hochqualifizierte, hoch subventionierte,
von Besuchern überfüllte Musikfestivals, in denen aber eins total
ausgespart wird: eben die neue experimentelle Musiktechnologie. Statt der
DSPs stehen im Mittelpunkt die mechanischen Musikvirtuosen, die das musikalische
Feld wohl auch weiterhin beherrschen werden.
Unsere Soundproduktionen sind zeitgemäß und werden als solche
wohl auch später vielleicht sogar in die Geschichte eingehen. In diesen
Jahren jedoch sind sie "daneben", unzeitgemäß und mögen
sogar auf Ablehnung des Rezipienten von jedweder Kunst- und Kulturproduktion
stoßen: des Menschen. Wenn wir die Zeitgemäßheit, die
Angemessenheit der DSPs als den Produzenten der Elektronischen Musik fragen,
so ist grundlegend die Situation des Menschen, so wie er ist, zu betrachten.
Was will der Mensch eigentlich auf der Welt? Will er dem Menschen und seinen
Produkten begegnen oder strebt er danach, die Natur und ihre Kombinationen
zu erkennen? Ist der Mensch, müssen wir fragen, ein natürliches
Wesen, das die Natur zu erkennen und wahrzunehmen gedenkt, oder ist er
ein kultürliches Wesen, das die Kultur, selbstverständlich als
Erlebnis zurechtgemacht, genießen will? So verschiebt sich die Fragestellung
von zeitgemäß und unzeitgemäß auf natürlich
und kultürlich.
Mit das großartigste Produkt der menschlichen Kultur ist nun
einmal die Musik. Musik ist heute überall gegenwärtig, sie ist
immer dabei, beim Essen, Einschlafen, Aufstehen und bei der Arbeit. Über
Musik ist viel gesprochen und diskutiert worden, der Kernpunkt dessen,
was sie tut, ist: sie tönt die Wirklichkeit in unnachahmlicher Weise
zurecht. In der Musik wird dem Menschen eine schöne, perfekte, in
sich stimmende, wohltuende, sogar übersinnliche, göttliche Welt
angeboten. Wer sollte da nicht zuhören? Die Musik mit ihrem zugrunde
liegenden theoretischen System lässt sich tatsächlich aus dem
Naturfaktischen herausfiltern. Es kann sogar sein, daß musikalische
Phänomene sogar in der Natur auftreten, man denke an das Singen der
Vögel (Tonhöhen) oder an stabile Frequenzzustände in Wasserfällen
oder an das relativ leichte Erlernen von stabilen Tonhöhen mit der
menschlichen Stimme.
Doch, ganz kurz gesagt, hinter diesem phantastischen und wohl geordneten
Vordergrund befindet sich eine ganz andere Welt. Ein kurzer Vergleich sei
aus der Mineralogie angeführt: natürlich kann Granat irgendwann
entstehen. Die Masse der vorkommenden Minerale sind sehr komplexe und komplizierte
Aggregate von Elementen. Der Ton mit seiner mineralischen Stabilität
ist ein eigentlich nie vorkommendes Ereignis, hingegen sind die Frequenzaggregate,
besser Geräusche, das überall und zu jeder Zeit Vorherrschende,
Unbestimmte der Natur. Und diese akustischen Aggregate sind mit den DSPs
und den elektronischen Geräten erstmalig im vorigen Jahrhundert in
der Welt ermöglicht worden, so wie man andere Entdeckungen in der
Unter- und Überwelt zur gleichen Zeit gemacht hat.
Wir kommen zum Unzeitgemäßen der Musiktechnologie, die wir
Elektronische Musik nennen: sie bietet keine Edelsteine, sie bietet keine
stabilen Zustände, sie bietet keine Gerichtetheit, keine Orientierung,
sie bietet nichts, was den Menschen in seiner kultürlichen Prägung
auch nur annähernd befriedigen könnte. Die DSPs bieten klanglich
alles, wertlos, unbewertbar, unbestimmbar und das noch kompliziert und
komplex. Damit ist der Grund für die immer währende Unzeitgemäßheit
der komplexen DSP-Klänge gegeben. So etwas will der Mensch nicht,
und es scheint auch dem "Kulturell" des Menschen zu widersprechen. Und
trotzdem: die DSPs, die nur stellvertretend für x andere computergesteuerte
Geräte stehen, machen eine andere Klangwelt möglich. Aber der
Naturklang ist da und wird den Kulturklang verändern. Kommen wird
das sich ergebende Festival aller Klänge und Geräusche.
Was klassische Musik ist, muß nicht formuliert werden: sie ist
in sich homogen, bestimmt und bestimmbar und sie ist komponiert. Ob die
Welt so ist wie die Musik, mögen viele glauben. Auch Bach hat es sicher
geglaubt. Wir können es nicht mehr glauben. Für uns ist die Welt
das Gegenteil des oben Genannten, nämlich ein inhomogenes, unbestimmbares
Aggregat. Ein letzter Vergleich zur Natur, nicht eine Musik wie Edelsteine,
sondern gneisartige Geräusche, die man quasi als Abfall auf Halde
schüttet, kann die Elektronische Musik erzeugen.
Der Weg der 20 Jahre ging von preislich erschwingbaren Rehberg-Geräten,
die noch heute als unzeitgemäß und damit als überzeitlich
betrachtet werden können, hin zu neuesten softwaregesteuerten Modularsystemen
wie dem Reaktor. Räume können mit einer Vielzahl von Lautsprechern
beschallt werden, jeder nur erdenkliche Klang kann in jeder Kombination
dem Ohr zugeführt werden. Der Kulturklang der klassischen Musik löst
sich in Rauschen auf, aus dem Rauschen entsteht eine einfache Sinusschwingung.
Jede Unterscheidung ist aufgehoben, die Welt wird umfassender Klang. Das
war ein sachliches Ziel - denn es ist möglich - und ein persönliches
Ziel - denn es hat mich interessiert.
Der Unterschied zwischen dem Unzeitgemäßen und Zeitgemäßen
ist aufgehoben, die Kultur ist überwunden, und mit den DSPs, die wieder
stellvertretend für alles Elektronische stehen, können wir zur
Natur zurückfinden: die unendlich endlose Kombination endlicher Elemente.
Das Hören dieser sich produzierenden Kombinationen wird unendlich
faszinierend für uns sein, für den kulturell gebildeten Musiker
jedoch nur eines: langweilig. Und darin liegt unsere Unzeitgemäßheit.
Es gab sie: die neuen Instrumente, die DSPs, die Software, und ich
durfte sie bedienen. Aber das genügte mir nicht ganz, ich wollte den
Kulturmenschen auch ein bisschen zur Natur zurückführen, indem
er die Musik nicht sieht, sondern sie vielleicht ganz leise hört,
indem er zuhört und dann eines ist: erstaunt über die Vielfältigkeit
eines möglichen Soundpolyversums.
↑
Stephan Kirchhoff
Zwielichthüllen - Gedanken
zur Mediatorischen Musik
Durch die Ausschaltung der kompositorischen Absicht - durch das Mittel
der Reduzierung auf das Medium für sich, nähert sich mediatorische
Musik - insofern Musik schon immer vermittelnd ist - dem Wesen ihrer selbst.
Aufgrund des Willens zur konzeptionslosen Willenlosigkeit kann diese Musik
nur vom hören selbst her verstanden werden, sie ist gleichsam Spiegel
der individuellen Wahrnehmung - das eröffnet kontroverse und pluralistische
Beurteilungen. Es scheint, daß mediatorische Musik etwas erzeugt,
was sie gar nicht beabsichtigt: eine Diskussion um subjektive Standpunkte
wird dieser Musik jedoch nicht gerecht. Mediatorische Musik will lediglich
wertfrei mitteln, sie will beurteilungsfrei wahrgenommen werden und sie
hat eine Wirkung auf den Hörer, ist Wirkung an sich. Diese Wirkung
kann als haltloses Ausgeliefertsein erfahren werden, denn hören bringt
das Außen nach innen.
Das Hören begegnet dem Nichts, dem es haltlos ausgeliefert ist,
denn nicht Erwartungen, nicht Vertrautes begegnen ihm, sondern das Unerwartete,
das zeitlos aktuelle. Dies zwingt es seine Vorstellungen aufzugeben, zwingt
es sich dieser Musik auszuliefern und sich zu entmächtigen. Diese
Musik erzwingt die Aufgabe der subjektiven Projektionen. Hüllen- und
haltlos hat es zu erkennen, daß es nichts erkennen kann.
Dabei macht diese Musik jedoch die Komplexität der Realität
zugänglich und fordert somit auf zur Differenzierung, und genau das
ist das Neue dieser Musik. Sie ermöglicht in einer Entsubjektivierung
dem Hören ein subjektiv-ganzheitliches Gewahrwerden seiner selbst.
In einer selbstvergessenen Verwiesenheit auf sein eigenes Wesen führt
sich das Hören selbst durch den Zustand der eigenen Ohnmacht, wessen
will es sich denn auch bemächtigen, vom ich zum nichts. Es wird selbst,
solange es den Willen zur Bemächtigung aufgibt, zum Spiegel hinter
den Spiegeln, zum mediatorischen Medium. Dies aber ist ein Akt der Transzendenz,
und dies ist schon immer das Wesen der Musik, daß sie Transzendenz
ermöglicht.
↑
Gerda Schneider
Max - eine Alternative
Beim Hören von Musik stellt sich immer wieder die Frage: Soll man
einfach nur zuhören und die Musik auf sich wirken lassen? Oder wird
der Genuss erhöht, wenn ich etwas darüber erfahre, wie diese
Musik gemacht ist?
Die Antwort hängt nicht nur von der Mentalität des Hörers
ab, sondern auch von seinem Musikverständnis, das ihm im Laufe seines
Lebens vermittelt und anerzogen worden ist. Wir gehen davon aus, dass Musik
nicht nur gehört, sondern auch erkannt werden soll und dass Erläuterungen
zur Elektronischen Musik, wie ZeM sie präsentiert, notwendig sind,
weil sie eine grundsätzlich alternative Musik ist.
Alternativ heißt u.a., dass man sich nicht innerhalb der eingefahrenen
Bahnen bewegt, sondern innovativ neue Gebiete erschließt. Diese Aussage
bezieht sich sowohl auf die Art dieser Musik als auch auf deren Präsentation.
Um eine solche Musik zu produzieren, kann deshalb auf das moderne Medium
Computer nicht verzichtet werden. Er macht das möglich, was zuvor
nur denkbar und kaum realisierbar war. Der Produzent alternativer Musik
in diesem Sinne kann sich dabei auf Programme stützen, die ihm schwierige
Programmierarbeit abnehmen. Eines davon ist MAX, entwickelt bei IRCAM in
Paris seit 1986.
Was ist MAX? Eigentlich eine Lebensaufgabe, wenn man es voll ausnützen
wollte. In der Einleitung heißt es, es stoße an die Grenzen
des gewöhnlichen Sequenzer- oder Klangprogrammes für MIDI. Was
das heißt, wird dann im Folgenden ausgeführt: u.a. ist es ein
graphisches Programm zur Steuerung von musikalischen Events in Echtzeit
- ein unendlich weites Feld der Möglichkeiten, auf musikalische Prozesse
einzuwirken. Eine dieser Möglichkeiten soll nun vorgestellt werden.
Bisher war ich gewohnt, mit dem Editor-Programm von Franz M. Löhle
frequenzmodulierte Klänge für den TX81Z von Yamaha zu programmieren.
Vier dieser Klangerzeuger wurden auf verschiedenen MIDI-Kanälen mit
Prozeduren angesprochen, die für den Atari Falcon Computer geschrieben
waren. Auf vier voneinander getrennten Kanälen wurden diese Klänge
hörbar gemacht. Nach längerem Experimentieren entschied ich mich
grundsätzlich für eine Programmierung des Ablaufs ohne Sequenzer
bzw. ohne Zeitschiene: die gerichtete Zeit sollte aufgehoben sein, der
Ablauf der Klänge sich in ähnlicher Weise wiederholen, in einer
Art Spirale, mal auf, mal ab, mit zufälligem Anfang und Ende. Diese
großartige und faszinierende Möglichkeit bietet m. W. kein Sequenzerprogramm,
kann aber mit einem einfachen Computer wie dem Falcon realisiert werden.
Hier zeigt sich eine "Geistesverwandtschaft" zu MAX: der Versuch, die
Grenzen eines Sequenzerprogramms zu überschreiten. Und dieser Punkt
war auch der Anreiz für mich, mich auf das Abenteuer MAX einzulassen,
zumal MAX nur auf dem Apple Macintosh Computer läuft. Doch wie sollte
ich mit MAX arbeiten können, da ich für die Eingabe kein Keyboard
benutze? Dank MIDI konnte die Kommunikation hergestellt werden: Falcon
steuert Mac.
Nun gibt es im MAX ein Objekt namens Pipe, mit dem die eingegebenen
Events mit einer beliebig programmierbaren Verzögerung wieder ausgegeben
werden - so etwas wie einen MIDI-Prozessor. Dieses Objekt hat es mir nun
angetan, da mit ihm raumfüllender Klang unabhängig von der Lautstärke
realisiert werden kann.
Einerseits spielt der Falcon den TX81Z, dessen Klänge zugleich
mit SYSEX in Echtzeit nach bestimmten Algorithmen verändert werden,
zugleich werden diese Events über MIDI an den Mac geschickt, der sie
- nach beliebigen Algorithmen verzögert - als MIDI-Information an
den TX81Z weitersendet (s. Abb.).
Dabei entsteht nicht ein einfaches Echo, also die Wiederholung des
gleichen Klanges, vielmehr erreicht die MIDI-Information des Mac durch
die Verzögerung den TX, während dieser bereits über SYSEX
den Klang verändert hat, und es kann nach dem Zufallsprinzip die MIDI-Eingabe
des Falcon vom Mac auf einem anderen Kanal ausgegeben werden, so dass ein
Gerät angesprochen wird, das gerade eine andere SYSEX-Einstellung
hat als das vom Falcon angesprochene.
Auf diese Weise entsteht ein Ablauf von Klängen und Klangveränderungen,
die sich ähnlich sind, deren Veränderung aber wahrgenommen werden
kann. Es entsteht nicht einfach eine Verdoppelung, sondern eine Verdichtung,
mehr Komplexität und damit eine stärkere Durchdringung des Raumes
mit Klang - eine faszinierende Möglichkeit, Klänge zu gestalten
und zu verändern, den Klang zum Raumklang und den Raum zum Klangraum
werden zu lassen.
↑
Philipp Schmidt
Kraftwerk, ein Essay (2)
[Fortsetzung
aus Heft 22
]
1973: Ralf und Florian
Dieses Album kann als Übergang angesehen werden. Sowohl musikalisch
als auch vom Konzept der Gruppe her war man an einem Wendepunkt angelangt.
Musik
Die Musik besitzt eine weichere, sanftere Atmosphäre, der Sound
ist wesentlich klarer als auf den Vorgängern und wird von einem elektrischen
Piano und etwas schmiegsameren, elektronischen Percussions bestimmt. Außerdem
kontrastieren die mechanischen Klänge nicht mehr so stark mit dem
Hintergrund, sie sind vielmehr ein integrierter Bestandteil der Musik.
Auch werden auf Ralf und Florian erkennbare oder zumindest Anzeichen von
erkennbaren Pop-Melodien verwendet. Zum ersten Mal wird auch so etwas wie
Text eingesetzt. Wie schon im Rhythmusbereich war es eine technische Neuerung,
die den Sound von Kraftwerk weiterentwickelte: die Worte Ananas Symphonie
werden im gleichnamigen Stück von einem Vocoder gesprochen. Wichtig
im Gegensatz zu den Vorgängeralben ist auch der Versuch, tanzbare
Musik herzustellen.
Image
Ebenso wichtig wie diese deutliche Weiterentwicklung der Musik ist jedoch
auch die noch stärkere Konzentration auf ein passendes Image. Ein
neues Mitglied des Kraftwerk-Konzeptes, Emil Schult, wurde in den folgenden
Jahren so etwas wie ein CI-Designer [CI = Corporate Identity, d. Red.].
Er entwarf Plattencover und in endlosen Sitzungen wurden das Konzept und
Image von Kraftwerk diskutiert und ausgefeilt. Man wollte das ernsthafte
Experimentierer-Image abschütteln. In der Tat wirkten sie schon nicht
mehr wie Musiker, sondern viel eher wie exzentrische Wissenschaftler.
Summe Phase 1
Insgesamt signalisierte Ralf und Florian das Ende einer Schaffensphase
von Kraftwerk. Noch war die Musik einer Kultband entsprechend, experimentell
und sperrig, doch war die Entwicklung klar erkennbar. Auch das Image wurde
zunehmend prägnanter, so daß die folgende Autobahn LP und die
damit verbunden Popularität nachvollziehbar werden.
Phase 2: 1974 - 1986
1974: Autobahn
Diese zweite künstlerische Phase Kraftwerks beginnt mit ihrem wahrscheinlich
bekanntesten Album Autobahn im November 1974. Der Schritt von der "avantgardistischen
Kultband", die jedoch nie wirklich einzigartig oder innovativ war zu einer
kommerziell sehr erfolgreichen Elektro-Pop Band scheint in den 12 Monaten
zwischen Ralf und Florian und Autobahn vollzogen. Das griffige, extrem
stilisierte deutsche Image ermöglichte es, Kraftwerks Einzigartigkeit
sofort zu erkennen.
Musik-Technik:
Musikalisch hatten sich Kraftwerk weg von der Improvisation, die früher
die Basis ihrer Musik gewesen war, zu Ordnung und Klarheit bekannt. Durch
Einsatz von elektronischen Instrumenten ließ sich ihre Vorstellung
dieser Ordnung ideal durchführen. Erst jetzt und damit lange nach
ihren deutschen Musikerkollegen, ganz zu schweigen von den Bands Amerikas
oder Englands, kauften Kraftwerk einen Mini Moog. Sie waren damit technisch
in keiner Weise Vorreiter oder Pioniere, was heutzutage oft behauptet wird.
Allerdings setzten sie den Synthesizer und seine Möglichkeiten anders
ein als die meisten ihrer Vorgänger der elektronischen Musik.
Kraftwerk war als einzige von all den deutschen Bands, die der Faszination
des Synthesizers erlagen, abenteuerlustig genug, das Pop-Potential dieses
Gerätes auszuloten. Der Einfluß der Technologie ist ganz entscheidend
für Autobahn. Durch die Möglichkeit, Schlagzeugmaschinen und
Synthesizer zu koppeln, konnten sie endlich auch lange, sich scheinbar
monoton wiederholende Passagen, realisieren. Synthesizer und Sequenzer
ermöglichten es Kraftwerk, ihre eigene Identität zu finden. Es
scheint, als hätten sie nur auf diese Entwicklung gewartet.
Anfang der siebziger Jahre bestanden die meisten der sogenannten kreativen
Gruppen wie King Crimson und Yes aus Virtuosen, die ihre Musik auf abgefahrene
Jam-Sessions aufbauten. Als ich Autobahn gekauft habe, hatte ich das Gefühl,
daß sich da was änderte. Das war zum ersten Mal Musik, die unangreifbar
war, die nicht aus den üblichen Bestandteilen der Rockmusik zusammengesetzt
war.
Damals waren Kraftwerk der naturgemäß nächste Schritt,
der auf Can, Tangerine Dream und Neu! folgen mußte, um die Sachen
etwas präziser auf den Punkt zu bringen. Sie waren die erste Gruppe,
die eine neue Disziplin, einen Fort-schritt verkörperte. Im Gegensatz
zu den bisherigen Vorreitern der Synthesizermu-sik, wie Tangerine Dream
oder auch Walter Carlos (nach einer Geschlechtsum-wandlung heute unter
dem Namen Wendy Carlos bekannt) - der die berühmte Moog Platte Switched-On
Bach einspielte - versuchten sie nicht, den Synthesizer als pseudoklassisches
Instrument oder gleich als ganzes Orchester einzusetzen, sondern verwendeten
ihn als eigenständigen Klangerzeuger. Vielleicht kann man die Herangehensweise
von Kraftwerk als unbedarft beschreiben. Sie hatten keine klaren Vorstellungen,
aber technisch interessiert versuchten sie den Synthesizer und dessen Möglichkeiten
auszuloten, was ihnen auch schnell gelang.
Das vielleicht revolutionärste an ihrer Arbeit und das zugleich
am härtesten kri-tisierteste war die Tatsache, daß sie die neue
Technologie dazu nutzten, eine Pop-Platte zu machen. Anstatt weiterhin
zu versuchen, ernsthafte elektronische Avantgardemusik zu produzieren,
wandten sich Kraftwerk dem kommerziell orientierten Pop zu. Sie waren jedoch
auch hier nicht die ersten. 1972 hatte die Band Hot Butter mit ihrer Single
Pop Corn den wohl ersten Synthesizer-Pop-Hit der Musikgeschichte. Dieser
Song schien jedoch eine Eintagsfliege gewesen zu sein und so ist es gerecht,
daß heute viele den Namen Kraftwerk in Zusammenhang mit der Entstehung
des Synthesizer-Pop bringen.
Konzept
Wichtig anzumerken ist auch die gekonnte Umsetzung eines Konzeptes,
in diesem Fall des Konzeptes "Autofahren". Der Titelsong war mit der Intention
produziert worden das Gefühl nachzuempfinden, welches der Autofahrer
auf der Autobahn hat. Hierzu wurden Sounds kreiert, die diese Grundstimmung
widerspiegelten. Im Hinblick auf die heutige Elektro-Musik war das richtungsweisend.
Heutzutage werden, besonders durch den Einsatz von Samplern, Alltagsgeräusche
verwendet, um eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen. So ist zum Beispiel
der Schlagzeug-Sound bei einem Titel von Mathew Herbert, das Schlaggeräusch
eines Löffels auf einer Tischplatte.
Kommerz
Autobahn war eine kommerziell sehr erfolgreiche Platte. Eine gekürzte
Single-version rutschte als erste Platte mit deutschem Text in die amerikanische
Charts, und zwar auf Platz 25. Die LP erreicht in den englischen Charts
Platz 4 und in den US-Charts Platz 5.
Etc
Auch die Zusammensetzung der Gruppe schien zum ersten Mal zur Zufriedenheit
geklärt. Karl Bartos und Wolfgang Flür, die als Percussionisten
angeheuert wurden, blieben bis in die zweite Hälfte der 80er Mitglieder
von Kraftwerk, wenn auch das Duo Schneider-Hütter weiterhin alle Entscheidungen
traf.
Summe
Kraftwerk nutzten den Erfolg der Platte, um ihr Studio auf den neusten
Stand der Technik zu bringen. Ende 1975 besaßen sie erstmals ein
Studio, das vollkommen ihren Ansprüchen entsprach. Finanzielle Unabhängigkeit
war von jeher kein Problem, da sowohl Ralf Hütter als auch Florian
Schneider wohlhabende Eltern hatten, die ihre Söhne unterstützten.
"Wir haben in unsere Maschinen investiert, wir haben genug Geld zum Leben,
basta. Wir können machen, was wir wollen, wir sind unabhängig,
wir machen keine Cola-Werbung."(Florian Schneider)
1975: Radioaktivität
Die nun folgende Platte Radioaktivität war wieder ein Schritt "zurück"
in Richtung Avantgarde. Viel weniger poppig als Autobahn und mit experimentellen
Elementen war eine Ähnlichkeit mit den früheren Kraftwerk Stücken
zu erkennen. Sie setzten weiterhin konsequent moderne Technologie ein,
die industriellen Klänge aus den Anfangstagen sind auf Radioaktivität
jedoch zu einer Art elektronischer Kammermusik gezähmt worden.
Einfluß
Der Einfluß auf die Musikszene scheint auch den großen Durchbruch
des Synthesizers unterstützt zu haben. "Wir hatten mit unserem ersten
selbstgebauten Equipment etwas in Bewegung gesetzt, und jetzt wollten es
die Leute auch haben, jeder wollte einen Moog-Synthesizer haben." (Emil
Schult)
Image
Zur gleichen Zeit paßten Kraftwerk nun auch ihr Äußeres
dem Image an. Radioaktivität fiel mit der gleichzeitigen Veränderung
des Image zusammen, mit dem Bärte und Haare fielen und sich Kraftwerk
von trotteligen Hippies in ultramoderne Toningenieure verwandelten.
1977: Trans Europa Express
Nach dem Abstecher in die Avantgarde mit Radioaktivität war Trans
Europa Express nun die direkte Fortsetzung von Autobahn. Diesmal war das
zentrale Konzept der Zug auf einer Reise durch Europa.
Technik- Musik
Dafür hatten sie in ihrem Studio ein komplettes Eisenbahnuniversum
geschaffen und sich des gesamten Potentials der Synthesizer und Electronics
bedient, um die entsprechenden Geräusche herzustellen. Alles war hier
vorhanden: die Fernver-kehrsstraßen Nationale 7, die Nationale 1,
die europäische Autobahn, es war phantastisch. "Ich entdeckte genau
das, was ich auch in Chuck Berrys Route 66 oder in Fun Fun Fun von den
Beach Boys entdeckt hatte. Die Grundidee war ja eigentlich, daß Kraftwerk
selbst ein Zug sind, der Europa durchquert, und daß un-terwegs Leute
in den Waggons einsteigen."(Maxime Schmitt)
Noch drei Zitate, die sich mit Trans Europa Express beschäftigen
und den, schon deutlich ausgeprägte Stil, Kraftwerks beschreiben:
"Damit fing alles an. Wenn man heute die Worte "Trans Europa Express" hört,
denkt man sofort an Kraftwerk. Für mich ist Trans Europa Express eindeutig
ihre beste Platte, auch wenn es auf den anderen Platten schöne Songs
gibt. Es ist die perfekte Platte, das perfekte Konzept, ein absolut überzeugendes
Cover, ja ich finde sogar, daß es vom Klang her eine der besten Platten
überhaupt ist".(Maxime Schmitt)
"Viele Avantgarde-Musiker und Künstler hatten sich lange Zeit
darum bemüht, in-dustrielle Klänge und Bilder in ihre Arbeiten
zu integrieren. Die Dadaisten und Futuristen hatten in den zwanziger und
dreißiger Jahren besonderen Wert darauf gelegt, Alltagsklänge
und -bilder aufzugreifen, weil sie aus dem introvertierten Galeriebetrieb
ausbrechen wollten. Auch in den sechziger Jahren versuchten viele amerikanische
Avantgarde-Komponisten, alltägliche, nachvollziehbare Vorstellun-gen
von Klängen mit einzubeziehen, die sie in einem musikalischen Kontext
ge-nauer analysieren wollten. Je mehr sie sich aber darum bemühten,
desto elitärer und artifizieller schien das Ergebnis zu werden. Irgendwie
war der Sound dabei in den Hintergrund getreten, wodurch das Ganze nur
noch für ein paar "Eingeweihte" akzeptabel war, ansonsten aber als
verschroben und schlichtweg unzumutbar für ein Massenpublikum galt.
Damit lieferte Kraftwerk endlich klare Anhaltspunkte, daß die ihre
Synthese aus Popmusik, Avantgarde-Klängen und Konzepten, von der sie
schon immer fasziniert waren, perfektioniert hatten".(Marcel Bussy)
Einfluß
Ein Stück, an dem sich der große Einfluß Kraftwerks
auf spätere Synthesizer-Pop-Bands, wie Depeche Mode erkennen läßt,
ist "Schaufensterpuppen". Ein anderer Titel erlangte zweifelhaften Ruhm,
durch die Wiederverwendung in Afrika Bambaataas Hit Planet Rock. Was heute
in der modernen Musik gang und gebe ist - das Sampeln bestimmter Motive
oder Fragmente aus Musikstücken anderer Künstler - war Mitte
der 80er noch außergewöhnlich. Kraftwerk wählten mit Trans
Europa Express absichtlich eine Nische. Viele Fans werteten die Ent-wicklung
zum Elektro-Pop als Ausverkauf. Andererseits war die Musik für An-hänger
des gerade populären Punk, zu anspruchsvoll. Wie auch immer man zu
Kraftwerks Musik stand, wurde zu diesem Zeitpunkt langsam deutlich welche
Be-deutung Kraftwerk in der modernen Musik hatten. Im Industrial-Bereich
bei-spielsweise, führten die englische Gruppen wie Throbbing Gristle
oder Cabaret Voltaire schon Ende der 70er die Tradition deutscher Experimental-Gruppen
fort.
"Ich bin überzeugt, daß in England eine Menge Leute auf
Kraftwerk, Can und andere deutsche Gruppen standen, und es gab damals in
England keine einzige Band, die Vergleichbares auf die Beine gestellt hat."(Richard
H. Kirk /Cabaret Voltaire).
Weitere Bands auch in anderen Bereichen, die mehr oder weniger stark
von der Kraftwerk-Musik dieser Jahre beeinflußt waren sind DAF, die
Einstürzenden Neubauten, Die Krupps, sowie internationale Bands wie
Nitzer Ebb, Front 242 oder Nine Inch Nails.
1978: Mensch-Maschine
Mit dem Erscheinen ihres nächsten Albums verdeutlichten Kraftwerk
ihre Füh-rungsposition im Bereich der elektronischen Popmusik. Die
einzigartige Verbin-dung mit ihrem Equipment wurde noch intensiver. Das
gesamte Album wurde im Düsseldorfer Kling-Klang-Studio produziert
(gemischt wurde es jedoch im größeren Studio Rudas), in dem
sich die Mitglieder der Gruppe täglich trafen um zu arbeiten.
Musik - Technik
"Wir verarbeiten alles zu Kompositionen. Alles ist erlaubt, es gibt
kein Arbeitsprinzip, es existiert kein System. Unsere Ideen kommen wirklich
aus unseren Erfahrungen, dem deutschen Alltag, dem täglichen Leben.
Wir spielen die Maschinen, die Maschinen spielen uns, es ist tatsächlich
der Austausch und die Freundschaft, die wir mit den Musikmaschinen haben,
aus der wir eine neue Musik schaffen können."(Ralf Hütter)
"Florian hat vor allem an der Soundstruktur und mit den Maschinen gearbeitet,
er ist jemand, den ich nicht unbedingt als Musiker bezeichnen würde,
er ist eher ein Künstler. Er hat den Klang der Melodien verändert,
er ist zu unglaublich verrücktem Zeug fähig."(Karl Bartos)
Auf Mensch-Maschine fällt vor allem das weniger aufdringliche
elektronische Schlagzeug auf, das von viel leichterer Machart als auf dem
vorhergehende Album ist. Kraftwerk gelang es außerdem; eine elektronische
Sinnlichkeit oder Wärme der Maschine zu erzeugen. Der Sound ist technisch
perfekt, wirkt aber nie steril.
"Die Dynamik der Maschinen, die Seele der Maschinen war immer Bestandteil
unserer Musik. Trance hat immer etwas mit Wiederholung zu tun, und jeder
sucht nach Trance in seinem Leben, ..., beim Sex, in den Gefühlen,
beim Vergnügen, bei allem, auf Parties, ... Und die Maschinen produzieren
eine absolute; perfekte Trance."(Ralf Hütter)
Der Song Das Modell, der 1981 als Neuauflage erscheinen sollte, war
der in England erfolgreichste Kraftwerk-Song und erreichte Platz 1 der
Charts. Die Tatsache, daß dies erst drei Jahre später geschah,
wird oft als Hinweis angesehen, daß Kraftwerk mit Mensch-Maschine
ihrer Zeit noch immer weit voraus waren. Am Rande sei bemerkt: Das Modell
ist auch der einzige Kraftwerk-Titel, der sich mit einem weiblichen Thema
beschäftigt.
Einfluß
Der immer noch omnipräsente Einfluß Kraftwerks auf die Musikszene
ist deutlich an den New Romantics zu sehen. Bands wie Ultravox, The Human
League, Orchestral Manoevers in the Dark (OMD), Soft Cell und auch Depeche
Mode konnten trotz ihres eher punkorientierten Auftretens, die Verbindung
zu Kraftwerk nicht leugnen. Technisch hatte sich in der Musikbranche der
Siegeszug des Synthesizers weiter fortgesetzt, was oft auch Mensch-Maschine
zugeschrieben wird. Einerseits die Verfügbarkeit billigerer, transportabler
Instrumente als auch Kraftwerks Beispiel, in welcher Art die neuen Möglichkeiten
in der Popmusik eingesetzt werden können, haben zum sogenannten Synthesizer-Boom
beigetragen. Wichtig ist hierbei auch der Aspekt der Möglichkeit;
mit wenig Kapital einen Zugang zu den Klängen und der Technologie
von Kraftwerk zu haben. Die Verlagerung der Produktionsmittel, die sich
bis heute ständig fortgesetzt hat; ist ein Meilenstein in der Musikgeschichte.
Gerade dieser Synthesizer-Boom jedoch bewirkte die erste große Schaffenspause
Kraftwerks. Man wollte sich von den vielen Nachahmern abgrenzen und nahm
sich dafür beinah drei Jahre, eine Zeit der Isolation, die bis zum
Erscheinen des nächsten Albums andauerte.
1981: Computerwelt
Kraftwerk hatten die Zeit genutzt; ihr Kling-Klang-Studio komplett umzubauen,
so daß ihr gesamtes Equipment jetzt auch transportabel war. Allerdings
waren ihnen Live-Auftritte im Laufe ihrer ganzen Karriere eher unangenehm.
Der Anspruch war oft zu hoch, um außerhalb ihres Studios umgesetzt
zu werden. Diese Problematik ist auch heute noch in der elektronischen
Musik auszumachen. Der Anteil des Menschen am vorgeführten Werk ist
noch immer Ursache vieler Diskussionen.
Musik - Technik
Computerwelt ist das Kraftwerk-Album in dem sie sich am direktesten
mit der Technik auseinandersetzen, welche sie musikalisch schon seit einigen
Jahren nutzten. Humorvoll mutet die Verwendung von Casio und Texas Instruments
Taschenrechnern zur Klangerzeugung an, dennoch schwingt eine gewisse Melancholie
in vielen Stücken mit. So wurde Computerliebe auch als der erste Roboter-Blues
bezeichnet.
Eines der im Nachhinein wohl richtungsweisenden Stücke war Heimcomputer,
das eindeutig die Entwicklung der House und Techno-Musik geprägt hat.
Nicht verwunderlich, daß auch von keinem anderen Kraftwerk-Titel
ähnlich viele Samples verwendet wurden.
Kraftwerk waren Ende 1981 Pioniere was die technische Revolution des
Home-Recording betraf. Wie schon angedeutet verstanden sie es im Gegensatz
zu anderen aber auch, diese Entwicklung einzuordnen.
"Die neuen Technologien werden zur Liberalisierung der allgemeinen
Kreativität beitragen, weil jedem dadurch zu Hause eine Studiotechnologie
zur Verfügung steht, mit der er fast alle Klänge herstellen kann."(Ralf
Hütter) Was Kraftwerk vor über 10 Jahren begonnen hatten, begann
nun sich im breiten Rahmen durchzusetzen.
Einfluß
Es zeigte sich in zunehmendem Maße, wie weit Kraftwerk außer
dem Synthesizer Pop der New Romantics auch die schwarze Tanzmusik in den
USA beeinflussten. So verwendete Africa Bambaataa das Schlagzeugmuster
von Nummern und die Melodie von Trans Europa Express für seine Platte
Planet Rock. Durch Mischung amerikanischer Hip-Hop-Musik mit europäischer
Elektronikmusik entstand Electro. Arthur Baker: (Baker, der Produzent von
Africa Bambaataa hatte auch Tom Silvermann bei der Gründung seines
Tommy-Boy Labels, der Brutstätte des Electro, unterstützt) "Ich
habe Kraftwerk immer gemocht, seit ihrer LP Autobahn, die ich in Boston
gekauft habe. ... Als ich DJ wurde, entdeckte ich Kraftwerk, weil man dazu
tanzen konnte. Bambaataa stand auch drauf: es war diese Suche nach dem
perfekten Beat."
Auch im Techno-Bereich werden Kraftwerk häufig als Urväter
zitiert. So gesteht Derek May, einer der Mitbegründer der Techno-Szene
in Detroit (heute eine der wichtigsten Stilrichtungen des Techno, sehr
minimalistisch und hart), daß er als Jugendlicher vor allem auf europäische
Bands wie Kraftwerk "abgefahren" sei. Besonders in der DJ Szene New Yorks,
die Kraftwerk von Besuchen auch gut kannte, wurden immer neue Remixe ihrer
Stücke verwendet, und noch heute gehören sie zu den meistgesampelten
Bands aller Zeiten. Der Einfluß von Kraftwerk schien also auf zwei
Musikstile zu wirken. Einmal auf den europäischen Synthesizer-Pop,
aber auch auf die amerikanische Tanzmusik wie Hip-Hop oder Techno und House.
1983: Tour De France
Kraftwerk unterbrechen mit dieser EP eine erneute längere Phase
des Schweigens und beschäftigten sich erneut mit dem Konzept der Fortbewegung,
diesmal mit dem Fahrrad. "Das Fahrrad ist ja eigentlich bereits ein eigenständiges
Musikinstrument. Das Geräusch der Fahrradkette, des Pedals und Getriebes
zum Beispiel, das Atmen des Fahrradfahrers, das alles haben wir in den
Kraftwerk-Sound integriert, die Originalklänge haben wir im Studio
in die Computer eingegeben". Der schon nach "Computerwelt" spürbare
Einfluß auf die amerikanische Hip-Hop-Musik wird durch die Veröffentlichung
des Titeltracks auf dem Soundtrack zum Kultfilm Breakdance verdeutlicht.
1986: Electric Cafe
Die letzte Kraftwerk Platte mit vollständig neuem Material erscheint
wiederum drei Jahre später. Gründe für diese lange Pause
könnten der erhöhte Konkurrenzdruck und die technische Weiterentwicklung
des Kling-Klang-Studios sein.
Technik - Musik.
Fakt ist, daß Kraftwerk die Zeit nutzten, um ihr komplettes Studioequipment
von analog auf digital umzustellen. Außerdem hatten sie begonnen,
alle bis dahin erstellten Klänge zu digitalisieren, eine Arbeit, die
sie auch in den nächsten Jahren in Anspruch nehmen sollte. "Wir haben
alle unsere Klänge, sämtliche Erinnerungen, alle alten Bänder,
die sich inzwischen bereits entmagnetisierten, digital übertragen,
und wir haben unsere ganzen Originalklänge im Speicher des Computers
in ein digitales Format gebracht. Damit haben wir das gesamte Kraftwerk-Lexikon
auf dem Schirm zur Verfügung, einen kompletten Katalog. Und eines
Tages, wenn wir aufhören oder sterben, ist vielleicht irgend jemand
in der Lage, an diesen Ideen und Klängen weiter zu arbeiten und neue
Kompositionen daraus zu machen."(Ralf Hütter)
Einfluß
Electric Cafe beschäftigt sich - wie der Titel andeutet - mit der
Atmosphäre eines Cafes, den Geräuschen von Kaffeemaschinen, Staubsaugern,
usw. Die einzelnen Stücke sind atmosphärischer als auf den vorigen
Alben, was den kurz darauf entstehenden Trend des Minimalismus in der House-Musik
vorwegnahm. Das Album war jedoch kein eindeutiger Schritt voran und wurde
von der Kritik und dem Publikum auch sehr reserviert aufgenommen. Interessant
ist, daß in der Zeit zwischen Tour de France und Electric Cafe so
bekannte Künstler wie Elton John und Michael Jackson wegen einer Zusammenarbeit
oder der Verwendung von Originalbändern anfragten. Diese wurde jedoch
weitgehend verweigert, was zu Kraftwerks Image als "skurril" und "eigen"
beitrug.
Etc.
In den folgenden Jahren arbeiteten Kraftwerk an einer Best-Of Platte,
die jedoch komplett neu eingespielt wurde. Karl Bartos und Wolfgang Flür
verließen die Band nach 16 Jahren, was wahrscheinlich auf unterschiedliche
Meinungen zur Zukunft Kraftwerks zurückzuführen ist. Florian
Schneider und Ralf Hütter haben weiterhin jeden Tag im Kling-Klang-Studio
gearbeitet und ihr technisches Gerät weiterentwickelt.
Summe
Kraftwerk waren im Widerspruch zur weitverbreiteten Meinung keine Pioniere
der elektronischen Klangerzeugung. Sie hatten immer viel Interesse an elektronischer
Musik, verwendeten aber lange konventionelle Instrumente, die sie verfremdeten.
Erst sehr spät begannen sie, Synthesizer einzusetzen, wobei sie jedoch
einen eigenen und innovativen Ansatz hatten. Die Technik hatte einen gewaltigen
Einfluß auf die Musik Kraftwerks, wobei ich den Eindruck habe, die
Gruppe hatte die Idee des Synthesizers schon lange vor ihren ersten Versuchen
damit.
Im Gegensatz zu anderen Bands oder Künstlern, versuchten sie nicht,
den Synthesizer als Orchester oder Imitation eines konventionellen Instruments
zu verwenden, sondern erkannten das Potential mit ihm ihre Vorstellung
von Musik umzusetzen. Es ist unbestreitbar, daß Florian Schneider
und Ralf Hütter fasziniert von der technologischen Entwicklung im
Musikbereich waren, aber man hat den Eindruck, ihre Herangehensweise sei
eine sehr menschliche.
Zum Beispiel entwickelten sie eine fast romantische Sammelleidenschaft
und bewahrten alle jemals verwendeten Geräte oder Instrument im Keller
ihres Studios auf. "Wir benutzen den Keller als Lagerraum für alte
Instrumente und Geräte, die wir nicht mehr einsetzen. Wir werfen unsere
alten Sachen nie weg. ... Denn auch die Epoche, aus der ein Instrument
stammt, verleiht ihm einen bestimmten Ton, eine gewisse Patina wie in alten
Filmen, es ist nicht möglich, das mit einem neuen Instrument herzustellen,
das ist wie mit alten Farben."(Florian Schneider)
Sie erweiterten oder verbesserten fortwährend ihre Arbeitsbedingungen
und bauten auch Instrumente selber, wie die ersten live eingesetzten Drum-Computer
"Wir haben ungefähr zwei Jahre gebraucht, um die erste Schlagzeugmaschine
zu bauen. Die allererste hat Florian aus der Beat-Box einer alten Orgel
gebastelt, die er auseinandergenommen und so umgebaut hat, daß man
sie per Hand bedienen konnte. Die frühen Schlagzeuge waren eigentlich
nichts anderes als ein geschlossener Stromkreis. Sobald man einen Kontakt
zwischen einem Metallstück und einem metallenen Schlagzeugstock herstellte,
hat man diesen elektrische Kreislauf geschlossen, indem man das Metall
mit dem Stock berührte, und damit löste man einen Klang aus."
"Karl Bartos oder Florian besitzt ein Gerät, das mich fasziniert,
obwohl ich kaum etwas darüber weiß. Es ist ein Gerät, mit
dem man eine Stimme herstellen kann, etwas, was viel ausgeklügelter
als ein Vocoder ist. Er kann etwas in den Kasten eingeben, und der gibt
Sätze wieder".(William Orbit). [Es handelt sich höchstwahrscheinlich
um ein Texas Instruments "Speak and Spell", einen Computer, der mittels
Phonemsynthese Schrift in Sprache umsetzt, der Hrsg.]
"Das Heiligtum und wichtigstes Element im Mikrokosmos Kraftwerk ist
das Kling-Klang-Studio in Düsseldorf, ein Ort an dem zumindest Florian
Schneider und Ralf Hütter seit drei Jahrzehnten nahezu täglich
zusammenkommen, um ihre Vorstellung von Musik oder Klang umzusetzen. Keine
Metapher drückt die Faszination für Technik besser aus als dieser
Ort. Die Mikrocomputer stapeln sich, in blaues Neonlicht getaucht, auf
allen Regalen. Ihr Studio ist eine futuristische Fabrik, die der Traum
eines jeden Sound-Süchtigen ist."(Jean-Francois Bizot)
"Das Studio entstand eigentlich vor der Band. Alles ging auf das Studio
zurück, ähnlich einem Mutterschiff."(Ralf Hütter)
Kraftwerk haben die Revolution des Home-Recording um 10 Jahre vorweggenommen.
Die Verlagerung der Produktionsmittel in jedermanns Hände erkannten
sie schon sehr früh als wichtigen Impuls und bei der Beschäftigung
mit der heute populären Musik, wird klar, welchen Einfluß diese
Entwicklung in der Tat hatte. Das wirklich besondere an der Musik Kraftwerks
waren zwei Elemente: Zum einen die Verwendung des Synthesizers und anderer
elektronischer Instrumente oder Geräte, um Pop-Musik zu machen. Zum
anderen das Streben nach "tonaler Perfektion" im Rahmen eines jeweiligen
Gesamtkonzeptes.
Der scheinbare Widerspruch des intellektuellen Anspruchs an ihre Musik
und der auf den ersten Blick trivialen, weil populären Umsetzung,
ist vielleicht ein Geheimnis ihres großen Erfolges. Über ihre
Musik und deren nachhaltigen Einfluß sagte Ralf Hütter: "Wir
sind weder Künstler noch Musiker. In erster Linie sind wir Arbeiter.
Unsere Musik ist ziemlich minimalistisch. Wenn wir eine Idee mit einer
oder zwei Noten ´rüberbringen können, ist das besser, als
wenn wir Hunderte von Noten oder so ´was spielen müssen. Durch
unsere Maschinen müssen wir uns nicht den Kopf darüber zerbrechen,
ob wir genügend virtuos spielen können, diese Maschinen besitzen
genügend Virtuosität, deshalb konzentrieren wir uns bei der Arbeit
auf einen sehr klaren Minimalismus."
Das mechanische Universum von Kraftwerk wurde in Detroit, Brüssel,
Mailand, Manchester geklont oder kopiert und ist sogar durch das House-Music-Fieber
psychedelisiert worden. "Man kann unsere Musik nennen, wie man will: Science-Fiction
Musik, Techno-Disco, Kybernetik-Rock. Ich jedenfalls ziehe vor allem den
Begriff Roboter-Pop vor. Weil er etwas mit unserem Ziel zu tun hat, zu
dem es auch gehört, daß wir ohne Zeitlimit an der Konstruktion
eines perfekten Pop-Songs für die Rituale des globalen Dorfes arbeiten."
Die kulturelle Bedeutung Kraftwerks ist aber nicht nur durch ihren
konsequenten Einsatz von neuer Technologie oder ihre einzigartige Musik
zu erklären. Vielmehr unterschieden sie sich von Konkurrenten mehr
durch ihr perfektes Image. Musikalisch oder technisch waren sie weniger
Protagonisten als man heute glauben mag. Sie bildeten jedoch ein Gesamtkunstwerk,
das einzigartig die Verbindung von Mensch und Maschine verdeutlichte.
Quellen:
- Kraftwerk, Synthesizer, Sounds und Samples - die ungewöhnliche
Karriere einer deutschen Band, Juli 1995, Verlag Piper/ München
-
Das Standardwerk über Kraftwerk, auf deutsch nicht mehr erhältlich,
Originaltitel: "Kraftwerk - Man, Machine and Music"
GRAND ROYAL, Ausgabe 3, erschienen Sommer 96
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