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ZeM Mitteilungsheft Nr. 25 - 2004

Redaktion: Rettbehr Meier

 


 

Editorial

Das ZeM-Heft erscheint immer schon in geringer Auflage. Dies muß nicht zum Mangel an inhaltlicher Qualität führen, es wäre sonst kaum jede Ausgabe im Deutschen Zeitschriftenmuseum archiviert worden. Es kann aber seit einiger Zeit nicht mehr in auch nur einigermaßen wirtschaftlicher Weise gedruckt werden. Dies hatte Auswirkungen auf die Erscheinungsfrequenz.

Auf der anderen Seite sind Kopierautomaten viel besser geworden, mit diesem Heft kehren wir also zur Handarbeit der Anfangsjahre zurück. Damit wird die Frequenz vermutlich sogar wieder steigen. Längere Artikelfolgen und aktuelle Berichte werden aber weiterhin nicht sinnvoll sein.

Elektronische Medien wie das Internet werden immer wichtiger, die schon gestarteten Vorhaben sehr langer Artikelfolgen werden besser dort erscheinen. Trotzdem besteht immer noch der Wunsch, etwas "in der Hand" zu halten, in Form des Buches oder der Broschüre, Einzelartikel, oft als Essenz unseres Angebotes im Internet.

Durch die neuen Diskussionen um die sogenannte "Rechtschreibreform" ist der gesellschaftliche Konsens in diesen Fragen in sehr weite Ferne gerückt. Ich kann es daher niemandem verübeln, wenn er beim bisherigen Konsens bleibt.

Rettbehr Meier

 

 


Rettbehr Meier

Von "elektroakustischer" und Elektronischer Musik

Elektronische Musik, Computer-Musik, elektroakustische Musik, elektrische und elektronische Musikinstrumente, mechanische Musikinstrumente, Musikautomaten, E- Musik, U-Musik, Akustik, Elektrik, Elektronik, wir haben eine babylonische Sprach- und Begriffsverwirrung in der Öffentlichkeit, die zudem noch durch fehlerhafte Publikationen verschlimmert wird. Vielleicht hilft es, wenn man nach dem historischen Ursprung dieser Bezeichnungen und den damit verbundenen Ideen sucht.

Ereignisse

"Love-Parade-Chef Fabian Lenz gibt auf", so konnte ich kürzlich lesen. Wieder einmal ebbt eine Welle populärer Musik ab, in diesem Falle "Techno". Ich bin gespannt, was als nächstes herangeschwappt kommt. Eines ist aber schon sicher: dieses Etwas wird allein auf elektroakustische Mittel gestützt sein.

Die Vermarktung von Musik findet seit den 1950er Jahren (Aufkommen der Vinyl-Langspielplatte) immer mehr und heute fast ausschließlich durch elektroakustische Mittel statt. Wer geht noch ins Konzert und was erbringt dieser vergleichsweise geringe Besuch wirtschaftlich für den Musiker? Musik ist wirtschaftlich nur in Abhängigkeit von der elektroakustischen Kette - also z. B.: Mikrophon, Mischpult, Klangspeicher, Master, CD, Abspielgerät, Verstärker und Lautsprecher - möglich.

Wo dies nicht geschieht, sind gravierende Einsparmaßnahmen zu befürchten. Im Sommer 2003 gab es eine "folgenreiche Sitzung der Gema" [1]. Die Gema ist die Rechte-, Geldeinnahme- und Verteilungsinstitution der Musikbranche in Deutschland. Ein neuer Aufsichtsrat wurde gewählt, der bis dahin "gültige Konsens zwischen schnöder Unterhaltungsmusik und ernster Musik wurde gekündigt ... alle sechs Plätze wurden frech von der U-Fraktion besetzt ... Der Pop meuterte gegen die Kunst. Hans Zender, Komponist der Oper Don Quijote, verließ türenschlagend den Saal."

Ca. 300 Millionen Euro werden jährlich an die 60000 Gema-Mitglieder verteilt. Nicht etwa, daß die Klassiker und vor allem die Neutöner sehr viel davon bekommen hätten. Aber es gab überproportional viel und für einige genug zum Leben. Nun wird es kein Sponsoring der wirtschaftlich schon längst unrentablen E-Musik durch die Pop-Elaborate mehr geben. Einige Komponisten haben das wohl längst vorhergesehen und ihre Werke konsequent im Selbstverlag herausgebracht, man braucht dazu die Gema nicht, denn das Urheberrecht gilt auch so.

Wie auch immer: Ereignisse der jüngsten Zeitgeschichte, und insbesondere Fragen der Vermarktung, der Publikumswirksamkeit usw., sind für unsere Suche nach dem Begriff hinter den Bezeichnungen wohl eher nicht zielführend.


U und E

Die Unterscheidung zwischen U- und E-Musik war schon immer problematisch, immer subjektiv, nie ohne persönliche Wertung. Ein objektiveres Kriterium ist dagegen der Informationsgehalt in einem Stück. Ein Schlager kann auf einem Bierdeckel notiert werden. Musik mit Bedeutung über den Tag hinaus wird zwangsläufig komplexer sein, mehr "Notenpapier" benötigen, damit sie auch nach Jahrzehnten immer noch bisher unentdeckte Details bietet, die das Wiederhören weiterhin spannend machen. Dabei sollte außermusikalische Information keine Berücksichtigung finden, ein langweiliges Stück wird durch seitenlanges, blumiges Schrifttum auch nicht besser. Man kann also informationstheoretisch neutraler von einfach oder simpel strukturierter Musik und komplex, oder reich strukturierter Musik sprechen. Über die künstlerische Wirkung besagt dies einiges, aber nicht alles, immerhin ist es besser als, U und E. Komplexe Musik tendiert damit zur Absoluten Musik, sie kümmert sich weder um den Zeitgeschmack, den Rundfunk- oder Stadtrat noch um ihre eigene Vermarktbarkeit. Sie ist Kunst nur für sich, sie dient keinem Zweck, sie ist einfach.

Die simple Musik dagegen muß den kleinsten gemeinsamen Nenner der potentiellen Käufer ansprechen: Deppen-Techno und Mutantenstadel. Sie ist bestenfalls Gebrauchsmusik, zu Zwecken der Entspannung, des Ablenkens von Problemen oder zu Zwecken der gesellschaftlichen Repräsentation. "Das Maß von Geist, das erforderlich ist, um uns zu gefallen, ist ein ziemlich genauer Gradmesser für den Geist, welchen wir besitzen" (Arthur Schopenhauer).

Wie wäre es mit "Die Lustige Witwe", vielleicht kombiniert mit 20 Tenören? Dazu als Sauce ein Dutzend bekannte Melodien, zwangsgewalzt von André Rieu? Da gibt es kein Vertun: bestimmte und nicht zu kleine Bereiche der Verkaufssparte "Klassik" sind eindeutig simpel, seicht, Gala-Auftritte mit Starkult. Zur Zeit sind spärlich bekleidete Violinistinnen in Mode, natürlich elektroakustisch verstärkt. Es wäre eine musikwissenschaftliche Untersuchung wert, ob die populäre Musik seit 1960 stetig in einer Verblödungsspirale hinabtrudelt. Möglicherweise erscheint dies nur so. Wenn nicht: es gibt leider keinen absoluten Nullpunkt der musikalischen Stupidität, der den freien Fall aufhalten könnte.

Sollte aber der Musikkabarettist Hans Liberg in Ihre Gegend kommen: hingehen! Liberg kennt sie alle, er ist schließlich diplomierter Musikwissenschaftler und rechtmäßiger, wenn auch zotiger Erbe Victor Borges. Er zieht sie gnadenlos durch den Kakao, vor allem Rieu, die Bohlens und Beatles dieser Welt, aber auch Mozart und Co. bekommen ihr Fett weg. Sein letztes Programm hieß "Tatatataaaa", lautmalerisch Beethovens Nr. 5 markierend. Libergs Witz entlarvt die innere Beschränktheit der Musik, jawohl: auch die der "Klassik". Freundlicher ausgedrückt heißt das: Personalstil. Immer wiederkehrende Elemente, Selbstbezug, Zirkelschluß. Liberg macht Ihnen mit drei Anschlägen den Mozart aus einer Schnulze wie "Yesterday". Auch die "Neue Musik" kriegt natürlich ihr Teil. Damit hier kein Mißverständnis aufkommt: ich habe gar nichts gegen die "leichte Muse". Man kann nicht immer Kaviar essen, Brot und Butter muß es auch geben, sauberes Musikantenhandwerk, das auch genau als solches verstanden wird.


Geschichte

Einige wenige Musiker haben um 1900 klargesehen: die Stagnation, die das überlebte "klassische" musikalische Konzept und seine Randerscheinungen mit sich bringen. Ferrucio Busoni drückte es so aus: "Plötzlich eines Tages, schien es mir klar geworden: daß die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten scheitert .... Wenn "Schaffen", wie ich es definierte, ein "Formen aus dem Nichts" bedeuten soll ... wenn Musik ... zur "Originalität" nämlich zu ihrem eigenen reinen Wesen zurückstreben soll ... wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauchtes Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll ... diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zunächst im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang, ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten festgekettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollenden mitfesseln. Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten sein; in den allerneuesten Partituren und noch in solchen der nächsten Zukunft werden wir immer wieder auf die Eigentümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen und Geigen stoßen, die eben nicht anders sich gebärden können, als es in ihrer Beschränkung liegt; dazu gesellt sich die Manieriertheit der Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumentes; der vibrierende Überschwang des Violoncells, der zögernde Ansatz des Hornes, die befangene Kurzatmigkeit der Oboe, die prahlhafte Geläufigkeit der Klarinette; derart, daß in einem neuen und selbständigeren Werke notgedrungen immer wieder dasselbe Klangbild sich zusammenformt und daß der unabhängige Komponist in all dieses Unabänderliche hinein- und hinabgezogen wird" [2].

Das Bild ist zutreffend: die Musik ist auch durch andere solcher Ketten festgezurrt, nicht in der Lage, sich zu bewegen. Der Musikant am Instrument ist dem Schaffenwollenden nicht immer hilfreich. Das reicht von völliger Ablehnung der Partitur bis zu manchmal extremen gewerkschaftlichen Forderungen zur Aufführung, die mit rechtmäßiger Entlohnung nichts zu tun haben. Das Spielen der mechanischen Instrumente ist eine weitere Beschränkung. Man kann z. B. viel schnellere Tonfolgen hören, als damit spielen. Wo endet der Rhythmus und wo beginnt ein neuer Klang, das Umschlagen einer Qualität in eine ganz andere durch Quantität, und was ist überhaupt Klang? Welche Rolle spielt eigentlich Zeit in der Musik? Die althergebrachte Musiktheorie hat keine Antworten auf diese Fragen. Das "Warum?", diese menschlichste aller Fragen interessiert dort nicht besonders, statt dessen: "das haben wir immer so gemacht, ist eben Tradition". Erst "Die Lehre von den Tonempfindungen als Physiologische Grundlage für die Theorie der Musik" vom Physiker und Physiologen Herman von Helmholtz brachte hier etwas mehr Licht ins heuristische Treiben der Praktiker und markiert einen Beginn tiefergehender Forschung.

Mechanik

Es war von mechanischen Musikinstrumenten die Rede. Hierbei muß ein gravierendes Mißverständnis angesprochen werden: Xylophon, Geige, Orgel, Pauke und Klavier sind nicht "akustische" Instrumente. Denn das Schwingen einer Membran oder einer Saite ist zunächst einmal ein Problem der Physik, genauer der klassischen Mechanik, der ewig jungen Urmutter der Physik, der Lehre von den Kräften und den daraus resultierenden Bewegung der Körper.

Die Akustik ist das Teilgebiet der Physik, das die Ausbreitung von Schallwellen in einem Medium wie Luft, Wasser oder gar Beton beschreibt. Angeregt werden diese Wellen fast ausschließlich durch mechanische Schwinger, z. B durch die Membran der Trommel, aber auch genauso durch die Membran des Lautsprecherchassis. Die Beeinflussung des mechanischen Systems durch die akustische Abstrahlung ist dabei meist vernachlässigbar gering, die mechanischen Verluste überwiegen.

Ein Lautsprecher ist demnach mit voller Berechtigung auch "akustisch", er ist genauer ein elektromagnetisch-mechanisch-akustisches Mischsystem. Die herkömmlichen Instrumente sind mechanisch-akustische Mischsysteme. Es geht noch weiter: die Grundlage der Akustik ist die Wellendifferentialgleichung und diese beruht vor allem auf den drei grundlegenden Gesetzen der Mechanik zuzüglich der Materialeigenschaften, wo wiederum die Mechanik entscheidend eingeht. Man könnte vermuten, daß am ehesten noch das Schwingen der Luftsäule in der Orgelpfeife "akustisch" ist. Orgeln enthalten Labial- und Lingualpfeifen, bei ersteren ist die Strömungsmechanik zuständig, bei letzteren kommt noch ein mechanischer Schwinger - die Zunge - hinzu. Die herkömmlichen Instrumente sind also ausnahmslos mechanisch-akustische Apparate.

Die mechanischen Musikinstrumente sind nicht zu verwechseln mit den mechanischen Musikautomaten, also Orchestrion, Drehorgel, Pianola usw., bei denen zusätzlich zur mechanischen Klangerzeugung eine mechanische Abspielvorrichtung hinzukommt, also kein Musikant benötigt wird. Diese sind aber auch mechanisch-akustische Mischsysteme. Die (kürzere) Bezeichnung "mechanisch" ist für die herkömmlichen Instrumente daher voll gerechtfertigt, spezifisch und sinnvoll, die Bezeichnung "akustisch" dagegen für sich allein unsinnig und unspezifisch, denn alles was klingt, ist mit Recht irgendwie "akustisch". Vermutlich will man nicht gerne das Wort "mechanisch" benutzen, weil damit auch die Nebenbedeutung von "automatenhaft" einhergeht und welcher Künstler will damit schon assoziiert werden?

Dies sind einfache Tatsachen, die aber weithin ignoriert werden. Truax bietet in [9] ein schönes Beispiel. Zuerst erklärt er ganz richtig die Problematik, wenn Laien mühevoll errungene Begriffe z. B. der Physik aufgreifen und entstellt oder in falschem Zusammenhang benutzen. Und zwar, weil dies zumindest in der Öffentlichkeit ein vollkommenes Chaos der Begrifflichkeiten anrichtet, das die Kommunikation unnötigerweise erheblich behindert. Siehe dazu auch die Reaktion auf Stockhausens "Wie die Zeit vergeht". Natürlich steht es jedem frei, sein eigenes "Neusprach" zu entwerfen, die dringend notwendige interdisziplinäre Kommunikation wird er aber damit eher nicht fördern.

In einem weiteren Kapitel begeht Truax dann selbst genau diesen Fehler. Offenbar ohne Sachkenntnis der Mechanik, Akustik, Elektronik usw. (Truax ist Komponist, aber nicht Ingenieur oder Physiker, allerdings hält er einen "B. Sc. in physics, mathematics and music", das macht die Sache nur schlimmer) bezeichnet er die herkömmlichen Musikinstrumente als "akustisch", "physisch" oder "physikalisch", das Wort "mechanisch" kommt aber nie vor. Er konstruiert im weiteren einen Unterschied zu elektronischen oder elektro-akustischen Apparaten, diese seien demnach eben nicht "physisch" und nicht "akustisch". Truax spricht auch davon, daß die elektrischen Mittel etwas "unnatürliches" an sich hätten, als Beispiel bringt er die u. U. extrem hohen Lautstärken, die dadurch möglich würden. Ist das so? Man stelle sich hier nur einmal eine große Trommel vor. Die mechanischen Instrumente sind in der Tat so laut, daß Schwerhörigkeit eine anerkannte Berufskrankheit von Orchestermusikern ist! Das Buch von Truax hat in diesem Bereich nichts zu bieten, hier werden Sachverhalte zurechtgebogen. Aber die Rückschlüsse, die man durch solche Schriften auf soziale und psychische Erscheinungen im Bereich der Musik ziehen kann, sind äußerst interessant. Später komme ich noch einmal darauf zurück.

Andere Musik

Bis etwa 1930 konnten die Träume von einer anderen, komplexeren Musik wegen der materiellen Bedingungen (siehe Busoni) nicht umgesetzt werden. Verzögert durch den zweiten Weltkrieg war es 1949 aber soweit, das Wort "Elektronische Musik" (E. M.) taucht höchstwahrscheinlich zum ersten Mal in der deutschen Sprache auf, im Kompendium "Elektrische Klangerzeugung. Elektronische Musik und synthetische Sprache" [3]. Bis dahin sprach man nur von "elektrisch". Der Wortschöpfer und Autor war Werner Meyer-Eppler, Kommunikationstheoretiker, Physiker, Phonetiker, Klangexperimentator, und vor allem früher Theoretiker und unermüdlicher Wanderprediger in Sachen E. M. Das hatte eine ganz einfache, materielle Grundlage: Meyer-Eppler hatte zu seiner Zeit als einer der ganz wenigen Menschen auf dem Planeten Zugriff auf die modernsten Geräte, auf Ton- und Impulsgeneratoren, auf elektronische "Spielinstrumente" wie Harald Bodes Melochord, auf elektrische Filter und vor allem auf das Magnetophon oder Tonband (AEG, Funkausstellung 1935), das zum ersten Mal in der Geschichte die komfortable, qualitativ hinreichende Speicherung, Archivierung und Manipulation von Klang erlaubte. Andere hantierten da noch mit Schallplatten oder Stahldrahtaufzeichnung. Meyer- Epplers Klangbeispiele mit ihrem neuen Klang - in freilich oft althergebrachter Form - setzten bei seinen zahllosen Vorträgen Musik- und Ingenieurswelt gleichermaßen in Erstaunen, dies war wirklich unerhört.

Auch philosophisch gesehen war damit etwas ganz Neues in die Welt gekommen, man würde heute sagen: das Entfallen der Echtzeitbedingung. Denn vorher wurde Musik von Musikern so gut sie es eben vermochten in dem Augenblick erzeugt, in dem sie auch schon verklang. Musik war vorher Kunst in (Abhängigkeit von) der Zeit, während die bildende Kunst dazu im Gegensatz Kunst des Raumes ist, im Raum gestaltet. Mit dem Magnetophon war es nun aber möglich, Klangereignisse vorzuproduzieren, um sie dann später über Lautsprecher abzustrahlen. Gleichzeitiges kann dabei nachzeitig, Nachzeitiges gleichzeitig, Langsames schnell und Schnelles langsam werden, Unliebsames kann herausgeschnitten werden, ja es kann sogar die Kausalität aufgehoben werden: man hört die Saite aus dem Nichts - ohne Ursache - anschwingen, immer lauter und heller, bis - entgegen aller Physik - der Filzhammer die Energie mit einem Schlag abführt, das Piano verstummt. Dazu muß man das Band bloß rückwärts abspielen. Die Zeit kann beliebig gedehnt oder gestaucht werden, aus kurzen Impulsen werden so langanhaltende Klänge und umgekehrt. Und man kann die Struktur der Klänge gleichsam in Zeitlupe hören und tiefer verstehen, als je zuvor. Das Tonband machte den Schaffenden damit vom Sklaven zum Herren der Zeit, eine ganze Menge der lästigsten Busonischen Ketten waren damit abgeschüttelt. Musik ist seitdem nicht nur Kunst in der Zeit, sondern Kunst der Zeit und nähert sich somit der bildenden Kunst an.

Meyer-Eppler war offenbar ein vorausschauender Mensch und er machte eine ganz entscheidende Aussage: "Musik ist nicht schon dann "elektronisch" zu nennen, wenn sie sich elektronischer Hilfsmittel bedient, da es hierzu keineswegs genügt, die bereits vorhandene Tonwelt oder gar eine bestehende Musik ins Elektroakustische zu übertragen" [3]. Er sah also voraus, daß sich Musik in nur wenigen Jahren praktisch nur noch elektroakustisch verbreiten würde. Und dies erzwingt die Einbeziehung elektronischer Apparate.

Elektronik

 Elektrisch sind allgemein die Erscheinungen, die Ladungen, Ströme, Potentiale, elektrische und magnetische Felder hervorrufen und / oder  interagieren lassen. Man nennt das "klassische Elektrodynamik". Elektrische Maschinen nutzen z. B. die Leitfähigkeit von Kupferdraht, das Vorhandensein von Feldlinien um eine Spule, die Anwesenheit von beweglichen Elektronen in astronomisch großer Zahl als quasi kontinuierlichen Fluß. Elektronische Vorrichtungen stehen nicht außerhalb dieser Erscheinungen, aber sie nutzen zusätzlich feinere Effekte auf die Elektronen aus und verändern damit in sehr starkem Maße die Leitfähigkeit von Strombahnen, die Granularität elektrischer Ladung kann dabei sichtbar werden. Diese Effekte lassen sich meist nicht mehr klassisch verstehen, hier regiert die Quantenmechanik. Es treten insbesondere verstärkende Wirkungen auf Strom und Spannung auf, also aktive Schaltungen. Die erste elektronische Vorrichtung mit Verstärkung war die Triodenröhre (1906/7, De Forest, von Lieben). Das Gitter steuert dabei in beispielhafter Weise die Leitfähigkeit der Strecke Kathode-Anode in verdünntem Gas oder im Vakuum. 1948 wurde auf einem Germaniumkristall der erste Transistor hergestellt, der Rest der Entwicklung bis hin zu Chips mit mehr als 100 Millionen Transistoren ist jedem heute bekannt.

Die "elektrische" Gitarre mit Verstärker und Lautsprecher ist demnach ein mechanisch-elektrisch-elektronisch-akustisches Mischsystem. Wenn man kürzt, so soll man gerade den wesentlichen Teil nicht abschneiden, "elektrische Gitarre" ist demnach die beste Kurzform, weil hier der entscheidende Klanganteil herrührt, es heißt nicht "elektronische Gitarre", auch nicht "mechanische Gitarre" und noch weniger "akustische Gitarre".

Elektronische Musik

Es war also vorhersehbar, daß - von der verfahrenstechnischen Seite aus - jede Musik zur "elektronischen" werden würde. Denn physikalisch-elektronische Effekte kommen in der Elektroakustik immer zum Einsatz, und sei es nur, um die circa 80 dB Dynamik eines großen Orchesters auf Zimmerniveau zu pegeln, oder den Klang des Flügels nach Tonmeisterart zu manipulieren. Die elektronische Musik im weitesten Sinne wäre also sehr bald ein sinnleerer Begriff, der alles und nichts kennzeichnete, jedes Haushaltgerät sondert heute irgendwelche elektronischen Piepstöne ab. So steht es denn auch im Lexikon [4]. Die naive Definition "elektronische Musik entsteht, wenn elektronische Apparate eingeschaltet werden", führt also nur zu Unsinn.

Meyer-Eppler und seine Mitstreiter, der Musiker Herbert Eimert, der Musiker und Tonmeister Robert Beyer und der Tonmeister Fritz Enkel, hatten da etwas ganz anderes im Sinn, als sie am 18.10.1951 am NWDR (heute WDR) die Gründung des weltweit ersten Studios für E. M. erreichten. Wie das in dieser Zeit des Mangels und der Trümmer politisch genau bewerkstelligt wurde, kann wohl heute niemand mehr sagen. Jedenfalls können die ersten drei (oder alle vier?) in der geschichtlichen Konsequenz als Erfinder der E. M. gelten. Dies gilt nicht für Karlheinz Stockhausen (zu dieser Zeit in Paris), der dies aber in einem späteren Interview erst nach zweimaligem, hartnäckigem Nachfragen einräumte. Die Musik tendiert eben dazu, "Techniker" wie Enkel oder "Theoretiker" wie Eimert und Meyer-Eppler schnell und gänzlich zu vergessen.

Ebenso interessant wäre es zu fragen, wieso diese Entwicklung nicht in den USA stattfand, in einer Situation der materiellen Fülle aus dem gewonnenen Krieg, zudem begünstigt durch den gerade endgültig etablierten technologischen Vorsprung gegenüber Ex-Nazi-Deutschland und Europa.

Meyer-Eppler, Eimert und Beyer sahen in der E. M. als Gattungsbegriff - also im engeren Sinn [5] - eine radikale Abkehr von der offensichtlichen Stagnation der bisherigen Musik, vom menschlichen Interpreten und damit besonders von der zur Zirkusvorstellung verkommenen Konzertpraxis. "Authentische, auf Tonband oder Schallplatte vorliegende Kompositionen vermöchten gewiß auch der Einseitigkeit der gegenwärtigen Programmgestaltung zugunsten einer größeren Vielfalt aufzuheben; die Einseitigkeit, d. h. die bis zum Überdruß getriebenen, häufigen Wiederholungen gewisser Standardwerke auf der einen Seite und die Scheu, unbekannte Werke neu in das Programm aufzunehmen, beruht im wesentlichen auf merkantilen Gründen. Der umfangreiche und kostspielige Orchesterapparat gestattet keine Experimente und das mit ihnen verbunden finanzielle Risiko." [3].

Diese neue Kunstform der E. M. hat mit der bloß naiv elektronisch zu nennenden Musik überhaupt nichts gemein. Die Elektronik ist nicht oberflächlicher Effekt - wie es leider nur zu oft beim Einsatz solcher Mittel festzustellen ist - sondern: "Der elektronische Komponist muß nachweisen, daß er seine Kompositionsideen mit herkömmlichen Mitteln nicht mehr hätte realisieren können; bloße Anwendung elektronischer Mittel, um Modernität vorzutäuschen, ist Trug" [3].

Eine Variante darf hier nicht unterschlagen werden: die Musique Concrète vor allem des Pierre Schaeffer entstand in Paris schon 1943 aus dem Club d'Essai und hatte als erstes Werk 1948 im Concert des Bruits die Étude aux Chemin de Fer. Ausgangspunkt waren hier also konkrete Klänge, zunächst auf Schallplatten, dann auf Band, das sind alle Klänge die per Mikrophon aufnehmbar sind, wie z. B. die Geräusche der Lokomotiven. Schaeffers Motto war der frühen Arbeitsweise aus Köln genau entgegengesetzt, das Ohr hatte demnach letztendlich über die Komposition zu entscheiden, also praktische Komposition nach Gehör statt Konstruktion vor dem Hören.

In den USA gab es um 1949 (Privatstudio Barron) und 1951 (Ussachevsky und Lüning) die - gegenüber den europäischen Entwicklungen harmlos wirkende - Music for Tape. Diese zog allerdings einen John Cage in ihren Bann, der unabhängig davon als letzte wichtige Komponente der "Neuen Musik" und auch der E. M. den Zufallsprozeß beisteuerte. Der Komponist gibt nur noch den Raum der Möglichkeiten vor, der Zufall führt dann die Struktur in diesen Möglichkeiten aus.

Nach anfänglichen Unstimmigkeiten zwischen Paris und Köln - man sprach scherzhaft von einem "zweiten eisernen Vorhang" - wurden die konkreten Klänge neben den synthetisch hergestellten Klängen als gleichwertig akzeptiert und den damals möglichen Prozessen der Verarbeitung zusammen unterworfen. Dies war nur logisch, da in Köln neben Rauschen und Sinustönen immer komplexere Schwingungen mit immer komplizierteren Spektren benutzt wurden, so daß klanglich ohne weiteres eine Annäherung zu bestimmten konkreten, meist geräuschhaften Klängen stattfand. Als erstes Stück dieser Vereinheitlichung wird Stockhausens "Gesang der Jünglinge ..." von 1955-56 angesehen. Man stellte bald fest, daß die extreme "deutsche Ordnung" in der totalen Serialität oft klanglich ununterscheidbar zu total zufälligen Kompositionen wurde. Insofern war hiermit auch bald der einstige Gegensatz "Konstruktion" und "Intuition" aus praktischer Sicht hinfällig.

Da die wesentlichen Verfahrensweisen (von Realzeit völlig entkoppelte Montage, Filterung, Generatoren) schon in der frühen E. M. vorhanden waren und die Musique Concrète aus technischer Sicht nur weitere "Wellenformen" beisteuerte, wurde das Ganze weiterhin durchaus logisch als E. M. bezeichnet.

Durch diese Absorption bis ca. 1960 wurde der radikale Ansatz aus Köln also keineswegs verwässert, es änderte sich nichts an der Situationseinschätzung der stagnierenden Musik und auch nichts am Versuch, dem zu entkommen: "Darf ich Sie bitten, sich einmal einen Maler vorzustellen, der in folgender Weise an die Ausführung eines Gemäldes geht. Fertigt Malplan an. Stellt eine Reihe von Mahlgehilfen an, für gelb, rot und blau. Planquadrate unter Leitung eines Obermalgehilfen ausfüllen. Wenn einer besonders in Schwung ist, malt er ein bißchen anders. Er "interpretiert" dann. Groteske Vorstellung. Entspricht aber völlig dem Verfahren, das bei Konzertaufführungen geübt wird. Komponist tritt weitgehend in den Hintergrund. Wie kann man ihn in den Vordergrund holen? Ist es nicht möglich, ohne den Umweg über den "Musikhandwerker" (Schönberg) gehen zu müssen, gleich in Klängen zu komponieren, statt auf dem Papier?" [3].

Die heute zur Verfügung stehenden technischen Verfahren gehen natürlich weit über das Arsenal von 1949 hinaus, meist aber nicht über das damals mathematisch-theoretisch Bekannte. Besonders die diskrete, zahlenbasierte Verarbeitung von Audiomaterial (vulgo "digital") hat noch gar nicht absehbare Möglichkeiten geschaffen. Denn es kann jede Zahlenmanipulation, die sich als Algorithmus ausdenken und aufschreiben läßt, sofort auch als Audio-Ereignis realisiert werden. Solche Programme kann im Prinzip jeder recht einfach erstellen. Was im analogen Bereich unrealisierbar war (Fehlerfortpflanzung, Drift), kann nun ohne weiteres durchgeführt werden. Die Mathematik der letzten drei Jahrhunderte kann nun zu musikalischen Zwecken herangezogen werden, dies wird ganz neue Größenordnungen der Komplexität erlauben. Die Begrenzung liegt demnach nicht mehr im Materiellen. Die Begrenzung liegt in der Intuition, im Verstand und in der Bildung des Menschen. Busonis Ketten sind insofern in der E. M. völlig abgefallen.

Dieser technische Fortschritt ändert natürlich gar nichts an den Feststellungen, die in historischer Konsequenz zur E. M. geführt haben. E. M. entsteht nicht einfach durch das Einschalten von elektronischen Apparaten, vielmehr steht dahinter eine historische Entwicklung nebst den radikalen Folgerungen daraus:

1. E. M. ist authentisch: E. M. ist die einzige authentische Musik, da der Komponist das akustische Endergebnis in extrem weitgehender Weise selbst definiert und freigibt. Die interpretierende Musik "klassischer" Werke dagegen ist auf Vermutungen über die akustisch beabsichtigte Ausführung angewiesen, wenn der Komponist nicht zugegen ist. Dies fängt bei Tempo und Dynamik an und endet bei Eingriffen in den Notentext. Selbst wenn der Komponist zugegen ist, kann es durch die Mängel des Orchesterapparates zu anderen als den beabsichtigten Klangereignissen kommen.

2. E. M. ist autonom: E. M. braucht keinen Interpreten, sie kommt vom Klangspeicher über Lautsprecher direkt zum Hörer. Damit ist E. M. also auch autonom, nicht geschmäcklerischen Variationen durch Dirigent, Musikanten usw. unterworfen. Der Komponist der E. M. braucht nicht nach Orchestern suchen, die vielleicht bereit sind, seine Kompositionen zu spielen. Wegen der erkannten Mängel grenzt sich die E. M. radikal gegen die mechanische Instrumentalmusik und gegen die Vokalmusik ab.

3. E. M. braucht die alten Vereinbarungen nicht mehr: Das Fehlen des menschlichen Interpreten ermöglicht es auch, die auf dessen praktische Erfordernis ausgerichteten Vereinbarungen fallen zu lassen. Das alte Koordinatensystem von Harmonik, Melodik und Rhythmik als Orientierungshilfe des Interpreten ist fortan nur noch unnötige Selbstbeschränkung. Es ist sogar möglichst vollständig zu meiden, da man durch die immer vorhandene Trägheit des Geistes ohnehin ungewollt am Gewohnten kleben bleiben wird.

4. E. M. kann den Raum nutzen: Die Bühne bleibt bei E. M. leer, es findet keine Zirkusnummer mehr statt. Daher wird der gesamte Raum als Dimension der Komposition oder der Struktur nutzbar. Es ist Platz für den Raum und die Raumwirkung. Dieser Einfluß auf den Klang kann durch entsprechende mehrkanalige Lautsprecheraufstellung als kompositorisches Mittel genutzt werden. Die Zuhörer müssen nicht nach vorne ausgerichtet sitzen, sie müssen vielleicht überhaupt nicht stillsitzen. Die Bühne bleibt leer, die E. M. verlangt deshalb nach neuen Aufführungsformen.

5. E. M. ist nicht "live": Die E. M. nutzt die neuen technischen Möglichkeiten, um das Primat der Zeit zu durchbrechen. Sie ist genau deshalb nicht Echtzeitkunst. Die bildende Kunst ist die Kunst der drei Raumdimensionen. Die E. M. ist die Kunst der Zeitdimension, sie geschieht nicht in der Zeit, sondern formt mit der Zeit. Man hat Ruhe, die Dinge im Studio zu bereiten und sich entwickeln zu lassen. Dies eröffnet ganz neue Größenordnungen der Komplexität. Die E. M. wird genau deswegen im Studio vorproduziert und über Lautsprecher wiedergegeben. Die traditionelle Musikausübung ist dagegen immer in Echtzeit, abhängig von der Zeit, also "live", der Komplexitätsgrad ist damit sehr beschränkt.

6. E. M. kann den Klang nutzen: Die besondere Eigenschaft der E. M. ist es, den Klang weitestgehend zu formen, ja aus dem Nichts erschaffen zu können, daher wird der Klang gegenüber den traditionellen Strukturelementen gleichwertiges Mittel und sogar hervorgehoben. Es findet auch damit eine gewisse Annäherung an die bildende Kunst statt. Der Klang wird somit zum ersten Mal in der Geschichte zu einer Dimension kompositorischen Schaffens. Dies ist mit mechanischen Instrumenten unmöglich, wohl deshalb spielt Klang in der herkömmlichen Musikausübung eine sehr untergeordnete Rolle, es gibt noch nicht einmal Symbole dafür in der klassischen Notenschrift, Kompositionen wurden und werden ohne weiteres uminstrumentiert. "Im Gegensatz zu allen "mechanischen Musikinstrumenten" ... verfügen die elektronischen Instrumente über eine in keiner Dimensionalität ernsthaft eingeschränkte Klang- oder Geräuschpalette. Ihnen ist der volle Bereich vom realistischen Meeresrauschen und der täuschenden Imitation traditioneller Orchesterinstrumente bis zur stilisierten Sprache und den mit Worten nicht beschreibbaren Klängen einer irrationalen Sphäre zugänglich. Sinnlicher Reiz steht neben äußerster Askese und psychischer Aggressivität" [3].

7. E. M. spricht die gesamten natürlichen Fähigkeiten des Menschen an: Das menschliche Ohr kann wesentlich mehr erfassen, als Instrumentalisten jemals zu spielen im Stande sind und als das herkömmliche System zu bieten hat, wenn nicht jahrelanger Drill diese Gabe endlich ausradiert hat. Die übliche Vorgehensweise mit Musikern verlangt aus praktischen Gründen nach einem simplen System. Die Beschränkung der vorherrschenden Praxis ist insofern unmenschlich, als das sie dem Menschen als Hörer nicht gerecht wird. Diese Erkenntnis ebnet neuen Kompositionssystemen und freier Klangmalerei den Weg. Wo das alte System fehlt - z. B. in der sog. "Neuen Musik" -, muß dem Menschen als Spieler oft per Kopfhörer ein Metrum oder sonstiger Anhaltspunkt vorgegeben werden, der Instrumentalist hängt also am Tropf der Maschine. Dies ist wiederum unmenschlich.

Das wäre in sieben Artikeln eine aus der Geschichte erwachsene Definition der Elektronischen Musik, die Meyer-Eppler in den wesentlichen Zügen schon seit 1949 vehement vertreten hat. (Nebenbei: haben Sie schon bemerkt, daß Meyer-Epplers Initialen umgedreht E. M. ergeben?) Da hier einmal grundlegend nachgedacht wurde, haben die Überlegungen und deren Resultate immer noch Bestand. Es gibt also keinerlei innermusikalisches Motiv, hier grundsätzlich zu ändern. Die außermusikalischen Motive untersuche ich weiter unten.

Computer

Eine weitere Verwirrung kam mit der Bezeichnung "Computermusik" auf. Das Wörterbuch sagt: engl. techn. computer: die Rechenanlage, der Rechenautomat. Computer sind rein elektronische Apparate mit etwas Mechanik bei der Festplatte und den Lüftern. Was viele nicht wissen: vor den Microcomputern gab es auch schon Computer als rein analog-elektronische oder sogar analog- mechanische Geräte, die z. B. Differentialgleichungen lösen konnten. Analog, wie einst alle Komponenten des elektronischen Studios. Der Übergang war fließend, die Modularen Synthesizer z. B. stammen davon ab, alter Wein in neuen Schläuchen.

Nur zu oft bleiben die heutigen Algorithmen sogar auf dem Stand dieser analogen Techniken stehen, besser gesagt: sie versuchen, diese möglichst nachzuahmen, man ist noch mit der Aufarbeitung des Gewesenen beschäftigt. Klanglich scheitert dies regelmäßig, weil immer noch nicht theoretisch erfaßt ist, wodurch sich der nichtlinear dominierte Klang alter analoger Technik ausbildet, was daran wesentlich und was verzichtbar ist. Vor allem Rückkopplungsschleifen mit Nichtlinearitäten machen hierbei große Probleme. Trotzdem hat auch mathematisch gesehen durch den Einsatz des Computers bei der Klangerzeugung prinzipiell nur ein Übergang von nichtlinearen Differentialgleichungen auf lineare oder nichtlineare Differenzengleichungen stattgefunden, der Unterschied wird mit steigender Abtastrate beliebig klein.

Rechtfertigen läßt sich dieser neue Begriff "Computermusik" daher nur für einen nicht ganz neuen und anderen Sachverhalt: daß Kompositionen - durchaus auch herkömmlicher Art - durch algorithmische Berechnung und somit bequemerweise durch Computer zur Partitur gebracht werden, sei es durch Kompositionsprogramme, reine Noteneditoren oder Midi-Sequenzer, letztere können das Ergebnis dann auch gleich noch zu Gehör bringen. Die Illiac Suite für Streichquartett von 1957 wird als erste vom Computer komponierte Musik angesehen. Tonsatz erfolgt nach Regeln, also Algorithmen, diese kann man programmieren und damit korrekt gesetzte Musik vom Rechner erzeugen lassen. Dies Handwerkliche kann der Automat auf jeden Fall übernehmen, es braucht dazu keine menschliche "Inspiration". Erste Ansätze zur algorithmischen Komposition gibt es schon seit der Renaissance und W. A. Mozart selbst erfand ein "musikalisches Würfelspiel".

Was aber, wenn der Computer ein Stück nach Art der Wiener Klassik komponiert und selbst Experten auf diese Fälschung hereinfallen? Man glaubte schließlich auch einmal, daß der Computer niemals Schachgroßmeister schlagen könne, da es ihm ja völlig an Intuition und an Einsicht mangele. Ist das dann Computermusik oder Klassik? Hier sollte man wohl besser das Ergebnis betrachten und nicht den Weg. Durch Einschalten eines Computers entsteht also nicht notwendigerweise Computermusik.

Die eigentliche Klangerzeugung oder Synthese ist weiterhin elektronisch und konzeptionell meist noch nicht einmal neu. Ob nun der Computer die Frequenzmodulation ausrechnet, oder dies mit analogen Mitteln geschieht, ob der Computer Audio-Schnipsel (Samples) speichert und manipuliert, oder ob dies per Magnetband oder Eimerkettenspeicher erfolgt, ist prinzipiell egal. Der Rechner ist nur ein modernes Werkzeug das uns die Mühsal von Bandschnitten mit der Schneidklebevorrichtung und das Ausrechnen von Reihen erspart. Ein neues Wort ist also dafür weder nötig noch hilfreich, das ist weiterhin der Bereich der E. M.

Bei der Analyse von Audiomaterial wird allerdings bei den neueren Methoden mit Hilfe des Rechners eine Komplexität erreicht, die von mechanischen oder analog-elektronischen Mitteln (schon da gab es Fourier-Analysatoren) auch nicht ansatzweise geleistet wurde. Allerdings ist dann der Ausdruck "Computermusik" sehr unspezifisch, man sollte dann die jeweilige Analysemethode in den Vordergrund der Bezeichnung stellen.

Ignoranz

Die Kritiker waren mit der E. M. überfordert und sprachlos, da das alte Werte- und Ordnungsschema auf diese Musik nicht mehr anwendbar war. Es blieb meist nur Humoristisches oder Gekläff. Ein Beispiel sei hier zitiert, der Vortrag "Was ist Musik?": "Ausschlaggebend scheint mir, daß hier Dinge produziert werden, die für uns gar nicht apperzipierbar sind, weil unser Gehör, das auf den Naturklang und seine Ableitungen eingerichtet ist, weder im physischen noch im psychischen Sinne befähigt ist, diese Produktionen zu verarbeiten, und beim Versuch zur Apperzeption vergeblich nach Beziehungen zum naturklanglichen Tonstoff sucht, der in den elektronischen Reizen nicht mehr enthalten ist. Darüber hinaus muß ich bekennen, daß ich nicht sicher bin, ob es überhaupt genügt, diese Experimente von einem nur musikalischen Standpunkt zu beurteilen, und ob hier nicht übergeordnete ethische Probleme angerührt werden. Ist es statthaft, daß wir die Axt an die Wurzeln einer der vollkommensten Schöpfungen Gottes legen, um dann aus den Trümmern eine Fratzenwelt aufzubauen, die den Schöpfer äfft? Ist das nicht Vermessenheit? Streift es nicht an Blasphemie? Es mag wohl sein, daß diese nur durch Apparate produzierbare und reproduzierbare Schallgeneration etwas ist, was unser Zeitalter der Atomzertrümmerung und der Vollautomation spiegelt. Mit Musik aber hat dieses volldenaturierte Produkt aus der Montage physikalischer Schälle nichts mehr zu tun. Hier ist die Grenze entschieden überschritten" [6]. Markige Worte, die zwar als "Kasseler Axt" in die Geschichte eingingen, aber auch ebenso deutlich die Beschränktheit ihres Verfassers darlegen. Was ist denn z. B. der "Naturklang"? Doch nicht etwa der Klang eines Konzertflügels, also einer mechanischen High-Tech-Maschine? Der pseudowissenschaftliche Rückgriff auf die angeblichen Eigenschaften des menschlichen Gehörs dürfte die Elektroniker der Zeit zum Lachen gebracht haben, denn diese kannten die tatsächlichen Möglichkeiten aus eigener Erfahrung.

Die Musik scheint oft nur mit sich selbst beschäftigt, es wird zu viel Zeit mit mechanischem Drill verbracht. Interdisziplinäres findet gar nicht oder kaum statt, man hat dafür schlicht keine Zeit. "Musiker" ist eben für viele ein knallharter Hochleistungsberuf, dem Profisport in vielen Dingen sehr ähnlich, auch in den ethischen Fragen und Problemen.

Das Buch von Truax [9] belegt, daß sich bereits etwas verändert hat. Die Einordnung "physikalischer Schälle" hat sich gewandelt, die Definition von Musik ganz wesentlich erweitert. Denn Truax benutzt seine Ohren zum hinhören, anstatt zum Wiedererkennen des Bekannten. Das ist das Hervorragende an diesem Buch. Es ist aber - wie oben gezeigt - auch ein Beleg für Nichtwissen aus heutiger Zeit. Truax ist schließlich nicht irgendwer, sondern preisgekrönte und bekannte Persönlichkeit der "elektroakustischen Szene". Truax rangiert dabei durchaus noch im Mittelfeld, denn es geht noch schlimmer, noch ahnungsloser, in [10] findet man: "Die neue Wettbewerbskategorie "Elektronische Musik" sorgte für Aufsehen bei "Jugend musiziert" ... ich wurde eingeladen, beim diesjährigen Bundeswettbewerb Mitglied der Jury zu sein ... Sie reichte von Kompositionen der Erfinder dieser Gattung Cage und Maderna ... was meint: Akkordeonsolo und Flötensolo mit Elektronik .... Nicht daran zu denken, dass durch die erweiterten Instrumentarien die notwendigen "konservativen" Qualitäten zu leiden gehabt hätten. Intonation, Agogik, Zusammenspiel und Präzision, Dynamik et cetera wurden streng beachtet und bezeugten eine sorgfältige Vorbereitung und Hingabe an die Aufgabe". Cage und Maderna haben demnach die E. M. erfunden, und diese wird mit Akkordeon und Flöte gemacht. Dies äußert nicht etwa ein pisa-geschädigtes Schulmädchen, sondern eine Professorin und Jury-Mitglied bei "Jugend Musiziert, Wettbewerbskategorie Elektronische Musik" in der "Neuen Musikzeitung". Hierzu fällt mir nichts druckbares mehr ein.

Damit komme ich zu einer wichtigen Ursache des Nichtwissenwollens, der Ignoranz, auch in der Auffassung und Aufnahme der E. M. Sie wird mit verursacht durch die tiefe Spaltung in "zwei Kulturen", wie der Physiker und Schriftsteller Charles Percy Snow es nannte. Die erste literarische und geisteswissenschaftliche - und ich füge hinzu künstlerische und musikalische - Kultur, sowie auf der anderen Seite die zweite Kultur der Naturwissenschaften und Technik.

Snow ereiferte sich in seinem Vortrag 1959 zu Recht über die hochnäsige Unwissenheit der ersten gegenüber der zweiten Kultur, den Stolz, rein gar nichts über sie zu wissen, sie damit als unwichtig abzustempeln. Noch 1999 gab es Literaten wie Dietrich Schwanitz, die solche Einfalt allen Ernstes als "gebildet" empfanden und dies in einem Kassenschlager ausbreiteten und damit weiterer Zementierung Vorschub leisteten ("Bildung - alles was man wissen muß". und vor allem darin "Was man nicht wissen sollte"). Die Motive, die diese Einstellung hervorrufen sind sicherlich vielfältig, drei liegen aber auf der Hand:

Es besteht eine merkwürdige Ansicht der Geschichte, die die sieben (gelegentlich auch neun, die Anzahl wechselt) Künste des freien Mannes der Antike (Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik) auf die nicht-naturwissenschaftlich-mathematischen vier zurückstutzt. Somit wird die einstmalige Einheit dieser Künste - wichtig: unter Einbeziehung der Musik! - , geleugnet. Pythagoras untersuchte die Zahlen, aber auch die Töne.

Der (zumindest vordergründig) enorme Erfolg und immer noch exponentielle Aufschwung von Naturwissenschaft und Technik muß spätestens seit Newtons "Philosophiae Naturalis Principia Mathematica" Gefühle der Mißgunst erwecken, indem durch wenige Prinzipien das auf einfache und überzeugende Weise erklärbar und berechenbar wurde, was vorher durch 6000 Jahre Spekulation und Deduktion unerklärt und unberechenbar blieb: z. B. die scheinbare Bewegung der Gestirne am Himmel.

Schlimmer noch: der Emporkömmling war nicht nur für jeden sichtbar erfolgreich, sondern brachte zugleich eine neue Kultur mit einer eigenen Sprache - die der Mathematik - hervor, die tatsächlich auf der ganzen Welt unabhängig von der natürlichen Sprache und Kultur verstanden werden kann. Hier entstand eine neue, tatsächlich kulturübergreifende Universalität, die die erste Kultur - sie ist nur auf einen Kulturraum beschränkt - niemals erreichen konnte. Die knappe aber um so exaktere Sprache der Mathematik wirkt auf einseitig Ausgebildete der ersten Kultur gleichzeitig als total ausschließend.

Die erste Kultur findet sich somit von einer zweiten universalen Weltkultur in gewisser Weise überflügelt und gleichzeitig ausgeschlossen. Man straft das Ganze am besten durch Nichthinsehen. Dabei will man auf die offensichtlichen Vorteile des Verachteten natürlich keinesfalls verzichten: Klimaanlagen, Zentralheizung, sauberes Wasser, Medizin, Fortbewegungsmittel, Radio, Fernsehen, Internet, usw. Diese somit scheinheilige Ablehnung hat natürlich Verärgerung auf Seiten der zweiten Kultur hervorgerufen, wo nun im Gegenzug Literatur, Kunst, Philologie usw. als "zweifelhaft", "unwissenschaftlich", "unlogisch" und "irrelevant" eingestuft wurden. Inzwischen sind fast 50 Jahre vergangen und heute ist ein solcher Standpunkt der gegenseitigen Ignoranz und Polemik seltener zu finden. Die bildende Kunst setzt sich seit langem mit Naturwissenschaft und Technik kritisch auseinander, dazu gehört auch, daß man etwas von diesem Gegenstand versteht. Das Eis schmilzt, man geht aufeinander zu, jeder weiß: es geht auf beiden Seiten nicht ohne die andere.

Es gibt aber eine bemerkenswerte Ausnahme: die Musik hält sich abseits, hält am unbedingten Primat der ersten Kultur fest, will sich nicht von Naturwissenschaft und Technik in die Karten sehen lassen. Das Selbstbild, das in allen anderen Disziplinen durch Naturwissenschaft und Technik ziemlich gerupft wurde, könnte ja Schaden nehmen. Aber es ist ja bereits geschehen, denn zeitgenössische Nachschlagewerke definieren sehr weit: "Musik ist die in irgendeiner Form von Menschen geplante Ausstrahlung von Schallwellen". Engere Definitionen führen schnell zu logischen Schwierigkeiten und Chauvinismus.

Zur Musik bedarf es immer einer "Technik", vom hohlen Baumstamm bis zum Mikrochip. Und das Wort "Musik" selbst stammt von griech. "musike techne", der "Kunst der Musen", griech: "technos" bedeutet Künstler oder Handwerker. Muse und Technik, nur beides zusammen machte den Begriff "Musik" im ursprünglichen Sinne aus.

Die Horde mit Stammesführern als soziale Struktur gibt es auch in den anderen Künsten. Es ist jedoch bemerkenswert, daß z. B. in der Physik ein unbekannter Patentbeamter dritter Klasse (Albert Einstein) in nur wenigen Jahrzehnten trotz zum Teil heftiger Gegenwehr das Weltbild kippen konnte und 30 Jahre später - als er dann selbst ein Häuptling war - wiederum andere Neuerer (z. B. Nils Bohr und seine Schüler) ihn übertrumpften. Auch in der Mathematik kommen wichtige Beiträge von vorher völlig Unbekannten. Was wird gesagt und warum darf man es behaupten, das sind die entscheidenden Fragen, die zur Bewertung führen, erst dann kommt: wer hat es gesagt. Meinungsführer müssen sich dem strengen oder empirischen Beweis beugen.

In der Musik ist es dagegen noch oft wie in der Theologie, erst das wer, dann das was, dann vielleicht noch das warum, Autoritäten und Dogmen, das geht hin bis zum absurden Personenkult des Genies und der Virtuosen. J. S. Bach wäre darüber entsetzt, er wußte sehr selbstbewußt seine Kräfte einzuschätzen, betrachtete sein Werk aber als ehrliches Handwerk, nicht mehr und nicht weniger. Wo es Dogmen gibt, so gibt es auch den Bannfluch: Herbert Eimert wurde aus dem Konservatorium hinausgeworfen, weil er eine Schrift zur Zwölftonmusik erstellt hatte (Atonale Musiklehre, 1923).

Ein Blick in ein Musiklexikon [11] zeigt: Sachartikel nehmen nur erschreckend geringen Raum ein, dafür findet man z. T. völlig unwichtige Personalia zu Hauf, nach Stichproben machen sie etwa die Hälfte der Einträge aus. Kennen Sie "Cindy und Bert"? Die E. M. als wichtigste Neuerung des 20. Jahrhunderts muß sich mit drei Spalten der knapp 700 Seiten begnügen, ihre Geschichte und die Ziele fehlen völlig, der Leser bleibt damit genauso ahnungslos wie die Autoren des Eintrages selbst. Die Protagonisten der E. M. fehlen nur zum Teil. Eimert hat wegen dieser Tendenzen selbst in Schrift und Tonträgern mustergültig vorgesorgt [4], [7], man konnte ihn daher nicht ignorieren, aber Meyer-Eppler fehlt. Zumindestens ist die musikwissenschaftliche Aufarbeitung und Sicherung seiner Arbeit geschehen [3]. Beyer verfolgte die Idee der "freien Klangfarbenmalerei", es kam daher zur Trennung von Häuptling Eimert und dem Studio. Bei so etwas ist man bereits zu Lebzeiten "gestorben", also sucht man ihn trotz einiger Werke im Musiklexikon vergebens. Sein Erbe ist zerstreut, nach meinen Erkundigungen bei der Stadt Düsseldorf bestehen da nur sehr geringe Hoffnungen einer Aufarbeitung. Beyer hat vielleicht keine wichtigen Schriften hinterlassen, aber möglicherweise existieren noch Tondokumente dieser Ideen, die bis heute (in Gegensatz zu den von Eimert verfolgten) Bestand haben. Pierre Schaeffer vertrat ähnliche Auffassungen, sein Werk besteht aber in einer eigenen Institution fort (GRM, Groupe de Recherches Musicales, Paris), das Lexikon hat immerhin einen Vierzeiler für ihn übrig.

Kunstmusik ist immer ein Verlustgeschäft, nur Wohlverhalten eröffnet Positionen und Gehälter, denn der Musiker lebt nicht vom Klang allein. Der Schüler muß sich schon deswegen dem Meister unterwerfen, Buckeln statt Aufstand. Die Fähigkeit zur Generalreform und Revision scheint der Musik damit abhanden gekommen zu sein, die ewig Gestrigen wirken noch über den Tod hinaus. Ein Wesensmerkmal der heutigen Musik ist daher ihre fast vollständige Ausrichtung auf die Vergangenheit, im krassen Gegensatz zu allen anderen Künsten. Zwar haben die Musikhochschulen Lehrstühle für Neue Musik, und sogar E. M. und es gibt einige vorwärts gerichtete Vorlesungen, aber in den Lehrplänen der verschiedenen Ausbildungsgänge tauchen diese nicht auf. Nur in einem von etwa zehn Fächern - der Musikwissenschaft - könnte vielleicht eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart erfolgen. Alles andere ist mechanisches Training und Geschichte.

Das hat Auswirkungen bis in die Spielpläne. Seit einiger Zeit ist die Freiburger Konzerthalle erfreulich progressiv ausgerichtet, ein neuer Intendant hat sich gegen alle Widerstände durchgesetzt. Ein Blick in den Plan der ersten Jahreshälfte 2005 zeigt: es werden etwa 83 Werke dargeboten, ca. 8% sind etwa 300 Jahre alt, 24% 200 Jahre, 18% 150 Jahre, 23% 100 Jahre, 17% 50 Jahre und immerhin noch 10% gehören der unmittelbaren Vergangenheit an, es gibt sogar eine Uraufführung. Das muß man wirklich loben, es ist nicht selbstverständlich. Trotzdem sind drei Viertel aller Werke älter als 100 Jahre, die Hälfte älter als 150 Jahre! Auch darüber wäre Bach entsetzt, bis vor etwa hundert Jahren wurde selbstverständlich aktuell Komponiertes aufgeführt. Die Mäzene und das Publikum forderten stets vehement das Neue. Die komplexe Musik war nie eine Musik der Masse, sondern eine der Elite. Die seit etwa achtzig Jahren stattfindende Konzentration auf längst Vergangenes wird auch noch diese Wenigen vorbeiziehen lassen. Der Konzertsaal als Museum alter Musik läßt jeden Bezug zur Gegenwart vermissen. So wird es immer schwieriger, die Geldgeber der Jetztzeit für weitere Ausgaben zu gewinnen. Das Orchestersterben ist nicht nur eine Finanzkrise.

Die bisherige Musikausübung ist als das zu sehen, was sie ist: kulturelles Artefakt, kulturelle Vereinbarung und kulturelle Auslese, damit stets zur Debatte stehend und keinesfalls natur- oder gottgegeben. In Äußerungen wie der "Kasseler Axt" und den anderen Beispielen haben Vorurteile, Unwissenheit, soziale und wirtschaftliche Aspekte und der genannte Kampf der Kulturen die entscheidende Rolle inne.

Die Folgen

Die herkömmliche musikalische Ausbildung ist für E. M. nicht besonders nützlich. Mit ihrer völligen Vernachlässigung des Klanges, ihrer Ausschließlichkeit nur eines bestimmten, im wesentlichen ca. 2500 Jahre alten Systems und ihrer mangelnden Vermittlung der tatsächlichen Grundlagen - des "Warum?" - ist sie vielleicht sogar schädlich. Dies mag mit ein Grund für die Abkehr vieler Komponisten von der E. M. gewesen sein, die man seit 1960 beobachtet. Ein anderer Grund besteht in dem o. g. wirtschaftlichen Zwang, denn es ist klar, daß ein solch radikaler Ansatz wie derjenige der E. M. nicht zur kommerziellen Auswertung taugt. Vielleicht fehlte es auch an Geduld, denn die Technik von 1960 mußte erst reifen, es war fast noch zu früh. Wie auch immer, man überließ das Feld anderen.

Die Simpel-Musik-Szene schlachtete die neuen Erfindungen seit etwa 1968 gnadenlos aus, um mit ständig neuen Klangreizen ihre totale - an Schwachsinn grenzende - kompositorische Armut notdürftig zu übertünchen. Oh Baby balla balla... Ein durchaus gelungener, kaufmännischer Vermarktungsansatz, der bis heute funktioniert und automatisch vom technischen Fortschritt gespeist wird. Haben Sie Stockhausen auf der Hülle des Sgt. Pepper Albums erkannt? Die Beatles wußten immerhin noch, woher diese Techniken eigentlich kamen.

Es ist leider so: die modernen Mittel der elektronischen Technik werden in viel größerem Umfang und von dafür viel besser ausgebildeten Musikern in der Pop-Musik eingesetzt, als dies auf Seite der Kunst-Musik jemals der Fall wäre. Ein Vorteil dieser Entwicklung ist es, daß elektronische Apparate in großer Menge, immer preiswerter und leistungsfähiger für jedermann auf dem Markt sind, wenn auch die Technologie immer zehn Jahre oder mehr hinter dem Stand von Forschung und Technik hinterherhinkt und oft die Möglichkeiten durch den vorgesehenen Simpel-Musik-Einsatzzweck stark eingeschränkt sind.

Elektronische Klänge sind heute überall, in jedem Film, in jeder Werbung spielen sie eine Rolle. Die Allgemeinheit hat sich so daran gewöhnt, daß die Allgegenwart elektronischer Hintergrundbeschallung niemandem mehr auffällt. Dies ist nützlich, da diese Klänge heute nicht mehr erschreckend auf die Menschen wirken. Und es ist zugleich schädlich, weil elektronischen Klängen ein Plastikimage des Billigen anhaftet. Diese enorme Massenwirkung führt natürlich zur totalen Verwirrung über den Begriff der E. M., elektronisch produzierte Simpel-Musik wird deswegen sehr oft naiv der E. M. gleichgesetzt.

Truax spricht in [9] von der Dominanz einer bestimmten Musik, die natürlich tiefgreifende Folgen auf den musikalischen Horizont der allgemeinen Hörerschaft haben muß. Gemeint ist die Pop-Musik mit vorwiegend amerikanisch-folkloristischen Einflüssen. Eine Monokultur macht sich seit mehr als 50 Jahren in den Köpfen breit, die jede andere Erfahrung von vorne herein unmöglich macht. Wer schon als Kind nur "Pommes-rot-weiß", "Curry-Wurst" und "Hamburger" kennengelernt hat, der dürfte als Erwachsener einige Schwierigkeiten haben, ein auch nur etwas hochwertigeres Menü zu genießen.

Es kam als mißlungener Abgrenzungsversuch der Kunstmusik auf diese z. T. selbstverschuldete Entgleisung der Elektronik zur "elektroakustischen Musik", einer unglücklichen und doppelt unsinnigen Wortschöpfung. Denn zum einen ist Musik immer akustisch (sonst hört man nichts [8], s. o. Anmerkungen zur Mechanik und Akustik), zum anderen wird jede Musik, und gerade die "schlimme" Simpel-Musik durch die elektroakustische Verwertungskette transportiert, womit der Versuch der Absonderung vom Trivialen logisch völlig scheitert. In [4] sieht man das ebenso kritisch, in [5] gibt es noch nicht einmal einen Eintrag "elektroakustische Musik".

Gemeint war mit "elektroakustisch" wohl: "akustisch wertvolle Musik", die "Miteinbeziehung von Instrumentalisten mit ihren mechanischen Instrumenten" - die von dieser Seite ja immer noch hartnäckig als "akustische Instrumente" bezeichnet werden - , der "Rückgriff auf wertvolle Tradition". In der Praxis bekommt man fast ausschließlich die "drei Klarinetten mit ganz leisem Zuspielband" serviert, nicht selten garniert mit ernsthaften Zweifeln an der elektronisch-technischen Kompetenz des Komponisten und der Aufführenden. In vielen Beispielen der "elektroakustischen Musik" ist die Elektronik nur unwichtiges und banales Beiwerk. Dahinter steht auch: man traut sich und seiner Musik nicht zu, ohne Bühnenpräsenz auszukommen. Etwas zu gaffen ist offenbar wichtig, man akzeptiert dann lieber weiterhin an die Busonische Kette gelegt zu werden. Man weiß nicht, was man dadurch an Freiheit verliert, da man das Potential der E. M nie wirklich verstanden hat. Das muß ich jedenfalls aus vielen "elektro-akustischen" Produktionen schließen.

Das Weglassen der mechanischen Instrumente ist nicht besonders sozialverträglich, vorhandene Musiker klagen Beschäftigung ein und sind über diese "neuen" Entwicklungen nur selten begeistert. Wenn man jahrzehntelang am Instrument trainiert hat, ja sein Leben darauf ausgerichtet hat, dann ist eine Musik ohne mechanische Instrumente wohl kaum zu akzeptieren. Wer sich immer noch mit E. M. abgibt, der lebt gefährlich, besonders in Akademia. Der "Elektroniker" wird die Ablehnung der "Mechaniker" zu spüren bekommen, und die haben das Sagen. Wer über E. M. promoviert, hat Schwierigkeiten, einen Prüfer zu finden. E. M. an der Musikhochschule trifft nicht gerade auf begeisterte Resonanz und E. M. im Radio findet auch heute noch nur im Nachtprogramm statt, im Fernsehen ist sie noch nicht einmal im Kulturkanal vorhanden. Die Häuptlinge sind nicht begeistert und das Interdikt des jeweiligen Papstes droht, die Auseinandersetzung hat tatsächlich etwas religiöses an sich. Das sind und waren existentielle Gründe, um zurückzurudern, zurück von der klaren Analyse der E. M. zum faulen Kompromiß der "elektroakustischen Musik".

Schluß

Es bleibt also für unsere Arbeit beim Begriff "Elektronische Musik" mit großem "E" als Gattungsbegriff. Für uns ist sie die z. Z. einzig denkbare Alternative zur endlosen Wiederholung des Bekannten, des wertvollen Gewesenen, oder des zu simplen Neuen. Denn die "Neue-Musik" erscheint ausgereizt, sie ist sogar schon bis hin zur Zerstörung der Instrumente vor Publikum gekommen. Computermusik findet man bei ZeM-Veranstaltungen zuweilen bei kompositorischen Bearbeitungen klassischer Musik, mit denen oft der Bezug zur Vergangenheit hergestellt werden kann, ich habe dies z. B. mit meinen "12 Variationen" getan.

Aus der immer noch gültigen historischen Konsequenz heraus findet E. M. gerade nicht "live" statt und nicht mit Einbeziehung mechanischer Instrumente, sie braucht den Interpreten nicht und damit auch nicht das vorherrschende Ordnungssystem, sie ist insofern völlig frei. Sie ist als einzige Musikform autonom und über die Zeit authentisch. Sie ist somit die radikalste Neuerung in 2500 Jahren Musikgeschichte, wahrlich die Axt am Stamm des Überkommenen.

Es verwundert bei den sozialen und wirtschaftlichen Zwängen nicht, daß heute nur ganz wenige echte E. M. produzieren, meist sogar unter der Bezeichnung "elektroakustisch". Einstige Protagonisten sind sogar zu Opern zurückgekehrt. Dies kann uns nur recht sein, sind wir doch somit wahrscheinlich die einzige Vereinigung für E. M. in Deutschland und vielleicht darüber hinaus, die die obige Situationsanalyse, Begründung und Definition der E. M. ernst nimmt und auch tatsächlich umzusetzen versucht. Wir in ZeM können uns das leisten, denn Musik ist nicht unser Brotberuf. Ob uns das künstlerisch immer gelingt und ob das Ergebnis "schön" ist, sind ganz andere Fragen. Ein kompletter Neuanfang ist keine einfache Sache. Man begibt sich dabei in Gefahr, denn die mögliche Fallhöhe wird deutlich größer. Diese Spannung ist aber wesentlich besser, als die Langeweile der ewigen Wiederholungen.


Quellen

[1] Die Zeit, 11.03.2004, Nr. 12, Feuilleton
[2] Ferruccio Busoni: "Entwurf einer neuen Ästhetik ...", Insel Verlag, 1916
[3] Elena Ungeheuer, "Wie die elektronische Musik erfunden wurde", Quellenstudie zu Werner Meyer- Epplers musikalischem Entwurf..., Schott Verlag
[4] Eimert, Humpert, "Das Lexikon der elektronischen Musik", Bosse Verlag, 1973
[5] Brockhaus Lexikon, unter "elektronischer Musik", jede Auflage ab 1956
[6] Friedrich Blume, "Was ist Musik?", Vortrag in Kassel 1959, in [3]
[7] Herbert Eimert, "Einführung in die elektronische Musik", 1963, LP, Wergo
[8] André Ruschkowski,: "Elektronische Klänge und musikalische Entdeckungen", Verlag Philip Reclam jun, 1998
[9] Barry Truax, "Acoustic Communication", Ablex Publishing, 2001
[10] Barbara Koerppen , Neue Musik Zeitung (NMZ) 2002/06, 51. Jahrgang, Seite 48
[11] Der Musikbrockhaus, Wiesbaden: Brockhaus, Mainz: Schott, 1982

 

 


Peter Kiethe

Blick über den Zaun

Die Donaueschinger Musiktage standen diesmal unter dem Motto "Ferne Nähe". Das SWF-Sinfonieorchester spielte vor ca. 500 Zuhörern in der Donauhalle A. Elektronik war hier also klarerweise nicht der Schwerpunkt, obwohl das Konzert selbstverständlich per Elektronik vom Radio übertragen wurde.

Das erste Stück (Michel van der Aa: "Second Self" für Orchester und Soundtrack) vereinigte Orchesterklänge (erweiterte Tonalität, Cluster) mit einem vorher bereiteten Tonträger (meist geräuschhafte Strukturen), das Fehlen der elektronischen Klänge wäre durchaus bemerkbar gewesen, die Elektronik war hier sinnvolle Ergänzung, aber nicht im Vordergrund. Der im Begleittext erklärte Gegensatz zwischen Streichquartett, Orchester und Orchester-Samples war nicht besonders deutlich herauszuhören. Das zweite Stück (Wolfgang Suppan: Phase (Idyll 4) für Orchester) sollte ebenfalls elektronisch von einem Tonträger unterstützt werden. Leider musste schon der 1. Satz abgebrochen werden, der Komponist eilte sichtlich erregt hinter die Bühne, um dort etwas zu reparieren. Der 2. Satz wurde daraufhin versucht, aber auch diesmal musste der Dirigent abbrechen, die Pause wurde dann vorgezogen, das Stück somit gar nicht aufgeführt. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man, daß ein Computerabsturz die Ursache war. Im Begleittext konnte man nachlesen, wie es hätte sein können. Das dritte Stück (Andreas Dohmen: "Lautung" für großes Orchester mit Solostimmen) benutzte die Elektronik, um fünf Sängerstimmen mit jeweils eigenen Reglern zu verstärken, nicht aber zu verändern. Somit waren die Sänger einmal mit und ein anderes mal ohne elektronische Verstärkung hörbar, mussten sich also dann allein gegen das Orchester behaupten. Das vierte Stück (Jörg Herchet: "sich verräumlichend" Komposition 4 für Orchester) wurde konventionell allein mit den mechanischen Orchesterinstrumenten umgesetzt, laut Begleittext wurden 6 "Räumlichkeiten" vertont. Die Werke haben mir gut gefallen, ich habe sie als angenehm in Erinnerung, durchaus als Bereicherung. Natürlich hat man dies so oder so ähnlich schon einmal gehört.

Wolfgang Mitterer hatte in der katholischen Stadtkirche St. Johann mit "Zeit vergeht... III" eine durchlaufende Installation "der leisen Töne". Besucher kamen und gingen. Bleigewichte auf Orgeltasten, Ziehen der Register während der Ton liegt, an- und abschalten des Gebläses, Mikrofonieren der Orgelklänge, Tontrauben, dazu konkrete oder elektronisch bereitete Klänge aus acht Lautsprechern. Auch nicht gerade neu, aber angenehm. Es waren neben mir noch drei andere Besucher da. Auch dies kennen wir.

Die Performance "Four Rooms, In nächster Nähe, so fern " von Andrea Neumann und Christof Kurzmann fand in den Räumen der Realschule statt. In der Mitte der kleinen Turnhalle befand sich ein Quader mit Lautsprechern und Erklärungen auf Plakaten. Auf den vier Seiten wurden Klänge aus vier Räumen der Schule wiedergegeben. Diese konnten die Zuhörer auch besuchen. Der erste Raum enthielt mit einem Schlagzeug und modifiziertem Piano die eigentliche Klangerzeugung. Der Perkussionist bearbeitete eine Trommel und ein Becken mit verschiedenen Schlegeln aus Holz und Metall. Die "Pianistin" regte die Saiten eines "nackten" Flügels (alle Holzteile waren demontiert, nur der Gußrahmen mit den Saiten war übrig geblieben) mit verschiedenen Stäben zum Schwingen an. Diese Klänge wurden mikrofoniert und an die anderen drei Räume weitergeleitet. In diesem reagierten Mitspieler auf diese Klänge. Im zweiten Raum kam das Programm MAX zum Einsatz, die mehr oder weniger perkussiven Klänge aus dem ersten Raum wurden statisch gemacht, offenbar wurden Startpunkt und Endpunkt der Tonschleifen, sowie ein Filter per Controller betätigt. Im dritten Raum bediente eine Mitspielerin verschiedene Gitarren-Fußpedaleffekte (die bei Gitarristen beliebten "Tretminen"), hauptsächlich Zeitverzögerung und Verzerrung. Im vierten Raum kam wieder das MAX bedient durch eine Mitspielerin zum Einsatz, hier waren Klangveränderungen durch Filter oder Kammfilter hörbar, die Veränderungen waren allerdings schwer auszumachen. Es fehlte ja der Bezug zum Original aus dem ersten Raum. Etwa 200 Zuhörer liefen so vom einem Raum zum andern. Sie drängten sich gelegentlich auch in den Räumen. Je ein Radiosender pro Raum übertrug diese Performance. Der Hörer draußen im Land konnte so selbst virtuell zwischen den Räumen beliebig umschalten, wenn er denn Empfang von Ö1, WDR3, HR2 und SWF2 hatte.

Es war wie so oft: hier wurde Konzeptkunst umgesetzt, die Idee selbst war spannend, der Gedanke war verwirklicht. Das akustische Ergebnis war jedoch banal, alles andere als spannend. Dies lag vielleicht daran, daß die Mitspieler fest vorgegebenes akustisches Material erhielten und nicht selber erzeugen durften. Die Möglichkeiten des MAX-Programmes wurden auch nicht ausgeschöpft, man blieb sehr an der Oberfläche. Dafür gibt es Gründe. Ganz unabhängig von dieser Veranstaltung sprach ich mit anderen Komponisten über solche Programme. Es wurde schnell klar, daß viele traditionell Ausgebildete ganz erhebliche Probleme mit solchen modernen Mitteln haben. Dies ist ja ein ganz anderer Denkansatz, mit neuen Begriffen und eher mathematisch-ingenieurwissenschaftlich ausgerichtet.

Bei dem sinfonischen Konzert war klar, dass Elektronik nur eine kleine Nebenrolle spielen würde. Bei 4rooms hatte ich jedoch deutlich mehr erwartet, entsprechend enttäuscht und verärgert verließ ich diese Aufführung. Der hochstilisierte Text im Programmheft, der viel Hörenswertes erwarten lies, wurde nicht eingelöst. Der Gedanke, das Konzept war sehr interessant, das akustische Ergebnis enttäuschte.

 

 


Klaus Weinhold

Die Elektronische Musik einst und jetzt

Vor 30 Jahren begann mit der Einführung und Erkundung der elektronischen Klanggestaltung, kurz "Elektronische Musik" genannt, für den Autor eine bisher kaum ausreichend wahrgenommene, neue Epoche der Musikgeschichte. Alle bisherigen Systeme wurden nicht einer Prüfung unterzogen oder erweitert und ergänzt, sondern es begann mit der Nutzung der elektronischen Klangerzeugung etwas gänzlich Anderes und Neues. Das herrschende Tonsystem und das System der "Instrumente" wurden ersetzt, auch teilweise imitiert und durch bisher unbekannte Innovation erweitert. Die praktischen Musiker waren erstaunt, einige waren empört, viele ließen das Neue achtlos links liegen.

Was war eigentlich geschehen? Etwas sehr Wesentliches: die Aufhebung der bisher uneingeschränkt gültigen, fundamentalen, eigentlich sogar fundamentalistischen Grundordnungen des klassischen Tonsystems und damit einhergehend die Aufhebung der Ordnung und damit der Stabilität klanglich-musikalischer Zustände von Einzeltönen und deren Vielfachen bis hin zu umfangreichen komplexen Kompositionen. Neue Fundamente, in den tiefsten Ebenen, in den Atomen, wurden hörbar gemacht und zusammenstellbar, also komponierbar. Man konnte nun nicht mehr in geschichtlich bestehenden Systemen neue stabile, komponierte "Werke" schaffen, sondern mixte ganz unten Elemente zu neuen Verbindungen zusammen, deren Ergebnisse bereits so etwas wie Kompositionen und Werke zu sein schienen. Nicht Themen in Tönen, sondern elementare Strukturen (Schwingungsmuster) konnten erst einmal zu Klängen und Sounds geformt werden. Statt großer Themen kleine Klangmosaiken, deren Abfolgen ganz neue Reize für das hörende Ohr ergaben.

20 Jahre später hielt der Computer für den Autor Einzug in die Musikwelt, er zerlegt und fraktioniert alles in die 0-1-Zustände und jeder dieser Zustände kann verändert werden. Die stabile Klangwelt zerbricht und lässt sich in kleinsten Elementarteilchen neu zusammensetzen. Auch wenn man nur die Oberflächen der Möglichkeiten antestend benutzt, ergeben sich Veränderungen auf allen Ebenen. Jede endgültige Komposition kann in jedem Element mutiert werden. Statt historischer oder aktueller "Aufführungspraxis" eine computergestützte "Mutationspraxis". Alle Elemente einer stabilen Komposition können einer offenen Mutation in das z. B. symmetrische Gegenteil überführt werden. So kann z. B. eine Stimme einer klassischen Komposition von rückwärts erklingen oder einzelne Tonhöhen werden um bestimmte Werte nach unten oder oben verschoben. Die Möglichkeiten solcher Manipulationen bieten heute nicht Kompositionsanweisungen klassischer Prägung, wie sie immer wieder im pädagogischen Bereich erstellt worden sind, sondern von der Informatik angebotenen "Programme", die die Möglichkeiten der Um- und Neuprogrammierung von klanglichen Prozessen anbieten. Nicht die Ausführung von Regelanweisungen, z. B. der Komposition einer Fuge, sind angesagt, sondern die offenen Möglichkeiten eines Programmes für die Gestaltung und Formung von Klanggebilden. So werden jedwede systembedingte Vorgaben durch ständig neue Potenzialitäten eines Programmes ersetzt, nach der Maßgabe des "wie klingt es, wenn dies Element mit jenem kombiniert wird".

Man wird sich nach all diesen Jahren fragen müssen, was Sinn und Gehalt all dieser Entdeckungen ist. Das neuronale Gefüge des Menschen, das man schon vor Tausenden von Jahren erkannte und einbezog in geistig orientierende Systeme, fragt nicht nach Offenheit und Variationsfähigkeit naturgegebener Programme und Systeme, sondern will nur die Frage nach dem "Richtig" und "Falsch", nach dem "Gut" und "Böse" beantwortet haben. Auch Eindeutigkeit der Elemente ist eine Forderung unserer geistigen Struktur. Musikalisch heißt das: der Ton C ist C und das Geräusch ist unbestimmbar und damit wertlos. Richtigkeit und Häßlichkeiten verschwinden in den digitalen "Programmen" und Prozessen. Die Wertigkeiten kehren sich um und vermengen sich. Das Geräusch wird zum Ton und umgekehrt, die Flöte zur Geige, vermischen sich zu einem Dritten. Was getrennt war, mischt sich zusammen, und die Mischung zerfasert sich in unzählbare Elemente. Die künstlerische und künstliche Welt des Klanges wird zu flüssigem Magma zerschmolzen und bestimmte Programme lassen diese wieder sich differenzieren und in vielfältiger Form kristallisieren, bis ein neues Programm wieder zur Einschmelzung führt. Ein Kreislauf der unendlichen klanglichen Mutation und Variation zeigt die schier grenzenlosen Möglichkeiten, die durch die digitale elektronische Musik gefunden worden sind und die zu stets unerwarteten und unvorhersehbaren Ergebnissen führt.

 


 

Rückseite


© ZeM e.V. | ZeM Heft Nr. 25 - 2004

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